Michael Gehler
Deutschland. Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute.
Rezensiert von Michael Dippelreiter
Michael Gehler hat mit seinem Monumentalwerk „Deutschland. Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute“ wieder einmal ein „Geschichtsbuch“ mit Vorbildcharakter geschaffen.
Dieses Buch ist eine Fortschreibung seines Werkes „Deutschland. Von der Teilung zur Einigung 1945 bis heute“, welches mit dem Jahr 2009 endete. Es wurde nicht nur um zehn Jahre fortgeschrieben, sondern auch um wesentliche Kapitel, wie z.B. Kultur, Literatur, Medien, Industrie, Technik, Sport oder Unterhaltung erweitert und die neueste Literatur in die Forschungsergebnisse eingearbeitet.
Gehler versucht in seinem Werk die beiden deutschen Staaten (bis 1989) gleichwertig darzustellen – eine schwierige Aufgabe, da in der umfangreichen westdeutschen Historiographie die Bundesrepublik Deutschland doch immer wieder als das „bessere“ Deutschland dargestellt wurde. Die BRD und die DDR blieben trotz der Auseinanderentwicklung ihrer Gesellschaften und der Entfremdung der Menschen sowie trotz ideologischer Gegensätzlichkeiten, politischer Konfrontationen der Regime und territorialer Teilung aufeinander bezogen und voneinander abhängig, vor allem durch die über vier Jahrzehnte verbissen ausgetragene Systemkonkurrenz des doppelten Deutschlands. Die beiden Staaten rivalisierten, wollten einander übertrumpfen und sich jeweils als besser und überlegener erweisen. Besonders deutlich nachvollziehbar und beobachtbar war und ist dies im Sport; Siege über Vertreter des anderen Staates wurden als „Überlegenheit“ des Systems gesehen und dementsprechend gefeiert. Dabei beherrschten permanente Bezogenheit und strukturelle Abhängigkeit die Beziehungen. Dieser Zustand hat sich auf die jeweiligen Geschichtsbetrachtungen ausgewirkt und wirkt in der wechselseitigen Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Deutschen in Ost und West bis heute nach.
Für Gehler reicht es daher nicht aus, beide Staaten nebeneinander und gegenüberzustellen. Deutschland war 1945/49 bis 1990 mehr als nur die Summe seiner Einzelteile. Es gilt die beiden Staaten nach gleichen Kriterien zu betrachten und sie nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen mit gebührendem Abstand und der Identifizierung von Analogien, Parallelen Übergängen und Überlappungen.
Ein kleines Kapitel widmet Gehler (interessant für die Freunde der Österreichischen Kulturvereinigung) der doppelten Repräsentation und dem Ende der geteilten deutschen Auslandskulturpolitik. Diese war von der BRD durch mehr als 120 Niederlassungen des Goethe-Instituts durchgeführt worden, während in der DDR die „Liga für Völkerfreundschaft“ unter der Leitung von Margot Honeckers Bruder Manfred Feist tätig war. Diese hatte neun Kulturzentren im Ausland unterhalten, welche „Kultur- und Informationszentren“ der DDR hießen.
Beide deutsche Staaten stellten ihr spezifisches Deutschlandbild vor und entwickelten dabei ihr eigenes Profil in der internationalen Staatengemeinschaft. Die DDR konnte aber, was nicht verwunderlich war, eine ideologisch unbelastete Kulturarbeit im Ausland realisieren. Die von den Deutschen selbst geförderte und mitgetragene Teilung ihres Landes schlug sich stark in der Auslandskulturarbeit beider Staaten nieder. Die ostdeutschen Stellen verwiesen auf den eigenständigen Kulturbeitrag der DDR, aber die Ideologie von der „sozialistischen Nation“ hemmte die Kulturpolitik im Ausland. Die Ereignisse von 1989/90 führten zu unterschiedlichen Konsequenzen in den einzelnen Kulturzentren der DDR. Während einige in eine Art Schockstarre verfielen, entwickelten sich in anderen Kulturzentren durchaus neue und innovative Programme (etwa in Helsinki und Paris), welche die aktuelle Entwicklung in der DDR durchaus kritisch reflektierten.
Genau betrachtet und analysiert Gehler die sich verändernde innenpolitische Situation 2015 durch die „Einwanderungsgesellschaft“. Dadurch entstanden Spannungen, die Gesellschaft hat Risse erhalten. Neue politische Bewegungen und eine immer hemmungsloser gewordene Kommunikationsgesellschaft außerhalb der öffentlich-rechtlichen Medien haben das gesellschaftliche Klima radikalisiert und haben das klassische politische System der beiden Volksparteien SPD und CDU/CSU durcheinandergewirbelt und bereits erodieren lassen.
Michael Gehler hat in seinem Buch die letzten 75 Jahre unseres Nachbarlandes nicht nur nachgezeichnet, sondern diese auch in lebendiger Form dargestellt. In einem ungeheuren Detailreichtum führt er uns in alle Facetten der beiden nebeneinander bestehenden deutschen Staaten ein und erklärt die gegenseitigen Berührungspunkte aber auch deren unüberwindliche Gegensätze. Der wiedervereinigte Staat Deutschland in all seinen Turbulenzen 1989/90, die außenpolitischen Veränderungen, aber vor allem auch die innenpolitischen Probleme in der und durch die Bevölkerung werden dargestellt und analysiert.
Wer an Zeitgeschichte insgesamt und an der jüngeren Geschichte Deutschlands interessiert ist, sollte dieses Werk gelesen haben. Michael Gehler sei Dank gesagt, dass er sich an diese Aufgabe gewagt und in so hervorragender Weise gelöst hat.
Michael Dippelreiter
Deutschland
Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute
589 Seiten, mit 56 Abb. und 29 Grafiken, gebunden
ISBN: 978-3-412-51786-1
Böhlau Verlag Köln, 2. Auflage 2020