Ausgabe März 2024: Auslese. Marias Bücherblog

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Nincshof: Vergessen Sie es (nicht)!

Thorsten Gerke ist Profi. Sein Buch „Tourismuswerbung“ zeigt, wie man eine Region „verkauft“. Da ist die Rede von einem „Instrumentenbündel, das sich aus der Kombination von Werbemitteln und Werbeträgern zusammensetzt. Werbemittel sind die Träger der Werbebotschaft“ (usw.). Denn schließlich zählt jeder Klick im Internet, jedes Plakat, jede Nennung des Ortes. Aber um ihn geht es nicht, sondern um Johanna Sebauer! Funktioniert denn das einfache Muster auch für Nincshof, den Ort der Radsportler, Wanderer, darunter vieleWiener, anzieht.

Man hat Geschichte: Nincshof bezeichnet den Siedlungsraum eines ehemaligen Pfahldorfes mitten im Schilf. Und Geschichterln hat man auch: Bewohnt wurde die Siedlung einst von schrulligen Aalfischern, die – als Männer – bei der Heirat stets den Namen ihrer Frauannahmen. Als altes Kulturgut gilt der Pusztafeigenschnaps. Alles wäre gut, aber…

Ausgehend von einem Einzelnen entsteht eine Art Geheimbund aus ausgewählten Einheimischen: Nincshof (und jetzt wird der Name Programm, denn „nincs“ bedeutet im Ungarischen, das man im Seewinkel dort und da spricht, „nicht“ bzw. „kein“) soll zum Nicht-Hof, zum Nicht-Ort werden. Die Verschwörer haben sich auch einen Namen gegeben: Die „Oblivisten“. Wenngleich die Wortschöpfung Lateinern die Haare zu Berge stehen lässt, ist hinzunehmen, sich die Handelnden damit als „Vergessen-Werden-Wollende“ definieren. Das Dorf soll also verschwinden aus Verzeichnissen, aus dem weltweiten Datennetz, nicht mehr erwähnt werden in den Zeitungen, getilgt werden aus sämtlichen Karten… Listenreich und strategisch sind die Maßnahmen. Interessant ist die Mitgliederrekrutierung der Oblivisten und schwankend ist das neue Selbstbewusststein der Geheimbündler. Bodenständig sind die Anschläge mit Jauche auf Verkehrswege, die den Touristen den Ort verleiden sollen.

Dann aber gibt es Störgeräusche: eine Dokumentarfilmerin aus Wien zieht ins Dorf. Ihr Mann, ein Italiener will eine Zicklein-Geburt live im Netz zeigen, denn er züchtet „Irrziegen“ (suchen Sie diesen Begriff aus der Tierwelt nur dann, wenn Sie eine gewisse Frustrationstoleranz und viel Zeit mitbringen – und lassen Sie sich sagen: Das Gleiche gilt für die Pusztafeigen!). Die handelnden Personen haben Eigenschaften, wie sie einem Dorfroman durchaus gemäß sind. Die ganze Palette von Neid über Völlerei bis Verachtung und von Übermut bis zu Apathie wird vorgeführt. Die Akteure haben seltsame Namen, die so gar nicht regionstypisch sind: „FetziErlanger“, „Frederika Liebzipfel“ und „Erna Rohdiebl“ muss man sprachlich erst einmal verdauen. Letztere, die Erna, wird Teil der inneren Zelle und mutiert von der ausgegrenzten Gartenzaunübersteigerin zur speckbrotwürfelessenden Oblivistin.

Irgendwas hat letztendlich an der Affirmation nicht funktioniert. Vielleicht hat das Unbewusste das „nincs“, das „nicht“, im Satz ausgeblendet: „Man soll sich nicht an uns erinnern“. Weil das Unbewusste eben nichts unterstreicht und deshalb leicht eine Verneinung unter den Tisch fallen lässt.

Die 1988 in Wien geborene Johanna Sebauer ist in einem kleinen burgenländischen Dorf an der (österreich-ungarischen) Grenze aufgewachsen. Politikwissenschaften und Journalismus hat sie in Wien, Aarhus, Santiago de Chile und in Hamburg studiert. Sie bringt Berufserfahrung aus der Wissenschaftskommunikation mit. Nach Kurzgeschichten in mehreren Anthologien ist ihr Debütroman „Nincshof“ im Jahr 2023 mit dem Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals ausgezeichnet worden. Zuvor hat eine erste Fassung 2019 den Literaturpreis des Burgenlands erhalten.

Viel ließe sich noch über „Nincshof“ sagen – zum Beispiel, dass die Grenze zwischen Märchen und Dorfroman hier fließend ist und dass, je mehr die Geschichte voranschreitet, es zunehmend die feinen Zwischentöne sind, die ins Magische hinausweisen. Aber eines – und die Oblivistenmüssen damit leben – kann man nicht sagen: „Vergessen Sie´s!“ Ganz im Gegenteil: Erinnern Sie sich daran, wenn Sie sich davon überzeugen wollen, ob die geschätzte Barbara Beer vom KURIER (sie war, noch als „Barbara Mader, bereits einmal Referentin bei einem unserer Kulturkongresse) recht hat. Sie meint nämlich, es handle sich um „einen leichtfüßigen Sommerroman mit exzentrischen und liebevoll gezeichneten Figuren, skurrilen Geschehnissen und grandios schrägem Witz.“ Denn Sommer ist dort und dann wo Sie wollen.

 

Johanna Sebauer: Nincshof. Köln: Dumont, 10. Juli 2023.

Gebunden mit Schutzumschlag, Hochprägung, Glanzlack und Lesebändchen,368 Seiten (ISBN 978-3-8321-6820-9) € 24,50 bzw. als E-book (ISBN 978-3-8321-6075-3) € 18,99

 

 

Im April 2024 geht es weiter mit einem alten, wiedergelesenen Werk:

Johannes von Tepl: „Der Ackermann aus Böhmen“, das um das Jahr 1400 in Frühneuhochdeutsch geschrieben wurde. Was hat es uns heute zu sagen? Ist etwa der Tod keinThema mehr?