Andrea Brait / Michael Gehler (Hrsg.)
Am Ort des Geschehens in Zeiten des Umbruchs
Rezensiert von Christian Prosl
Nicht zuletzt als Antwort auf die Kritik von Forschern aus dem angelsächsischen Raum, österreichische Historiker hätten die bestimmenden Debatten zum globalen Kalten Krieg zu wenig aufgegriffen, legen Michael Gehler und Andrea Brait (Hrsg.) ein neues Werk mit „lebensgeschichtlichen Erinnerungen aus Politik und Ballhausplatzdiplomatie vor und nach 1989“ (so der Untertitel) vor. Der Band bestätigt die Zunahme der Bedeutung der „Oral History“ in der Geschichtsforschung, wobei die darin aufscheinenden Quellen nicht nur Anlass für eine Erweiterung der Themen sein, sondern auch zu einer „Diplomatengeschichte in der Erweiterung“ anregen sollen. Das ist den beiden Herausgebern gelungen.
Durch intensive und umfassende Interviews mit namhaften Politiker und Diplomaten werden kulturelle Faktoren dargestellt, die die Akteure beeinflussen, ihre „Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster, die der individuellen Entscheidung entzogen sind“ (Wehler/Hardtwig). Es geht um die Zeit vor und nach 1989, und die Akteure der Diplomatie werden durchaus im Sinne von Bart-Scalmani / Rudolph / Steppan mit ihren vielfältigen Interessen und Loyalitäten in den Blick genommen. In den Zeitzeugeninterviews werden nicht nur Fragen über Abläufe und Entscheidungen gestellt, sondern auch Antworten über Atmosphärisches und Bewertungen gegeben. Daraus ergeben sich detailreiche Darstellungen von bisher kaum bekannten Entwicklungen und Interessenslagen sowie eine Analyse von kulturellen Faktoren rund und um das „annus mirabilis“ (für die einen) und das Jahr der Umbrüche (für die andern).
Spannend ist die Innensicht auf das Agieren der österreichischen Diplomatie, wie sie etwa aus den Gesprächen mit dem letzten noch lebenden Zeugen der Staatsvertragsverhandlungen, Herbert Grubmayr, ersichtlich wird. Er gibt seine persönlichen Eindrücke und Ansichten über diese Verhandlungen wieder, schildert aber auch als Botschafter in Moskau 1989 im Detail die Phasen der sowjetischen Haltung in der deutschen Frage. Weitere differenzierende Darstellungen zu den Umbrüchen aus unterschiedlichen Perspektiven kommen u.a. von Fritz Bauer (DDR), Franz Wunderbaldinger (DDR), Gerald Kriechbaum (Budapest), Karl Peterlik (Prag) und Paul Leifer (Belgrad). Unter den Politkern sind wohl die Ausführungen von BK Vranitzky zu Österreichs Beziehungen zur DDR, von AM Mock (EU-Beitritt) und von BM Lacina (Innenansicht der SPÖ/ÖVP-Koalition; EU-Verhandlungen) sowie des letzten Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Hans Modrow (Innerdeutsches Ringen um die „Wiedervereinigung“ / Beziehungen DDR-Österreich) die ergiebigsten. Aufschlussreich auch die deutsche Innensicht über das deutsch / österreichische Verhältnis von Dietrich Graf von Brühl.
Ein eigener Abschnitt ist der Auslandkulturpolitik gewidmet, deren Bedeutung in Österreich „um einiges höher war als für viele andere europäische Staaten“ (Emil Brix), denn schließlich sei „die Kultur ein wesentliches Element der österreichischen Identitätsbildung“ gewesen. Sehr bald hatte man am Ballhausplatz auch die Bedeutung der Kulturarbeit als Vorarbeit für spätere politische Ereignisse bzw. deren Ermöglichung, erkannt und anerkannt.
Umfassend, detailreich und sehr offen legt Manfred Scheich, der Architekt des österreichischen EU-Beitritts, die innerösterreichischen Hindernisse und deren Beseitigung innerhalb der Großen Koalition auf dem Weg nach Brüssel dar, sowie die Verhandlungen vor Ort (nicht zuletzt auch die psychologischen Elemente im Endspurt!).
Das fast 1000-seitige Werk ist in seinem Ansatz und in der Fülle der persönlichen Einschätzungen damaliger österreichischer und deutscher Akteure eine unabdingbare Ergänzung zu früheren punktuellen Studien über 1989. Die präzisen Fragen und die ergiebigen Antworten machen es trotz seiner Länge zu einer angenehmen und anregenden Lektüre für alle, die den fundamentalen und im Wesentlichen friedlichen Umbruch von 1989 zu erfassen suchen.
Am Ort des Geschehens in Zeiten des Umbruchs
Lebensgeschichtliche Erinnerungen aus Politik und Ballhausplatzdiplomatie vor und nach 1989.
Michael Gehler (Hrsg.); Andrea Brait (Hrsg.)
2018, 974 S., mit 30 Abb., Hardcover
Reihe: Historische Europa-Studien – Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft, 17
ISBN: 978-3-487-15622-4
EUR 128,– inkl. MwSt.