Michael Gehler, Marcus Gonschor
„A European Conscience“
A Biography of Hans-Gert Pöttering
Rezensiert von Christian Prosl
Mit der nun vorliegenden, fast überfälligen englischen Übersetzung ihres 2020 erschienenen Werkes „Ein Europäisches Gewissen“ ermöglichen die beiden Autoren Michael Gehrer und Marcus Gonschor den des Deutschen nicht mächtigen Forschern, vor allem des angelsächsischen Raumes, einen umfassenden Zugang zu einem der profiliertesten Europäer der letzten Jahrzehnte.
Mit gewohnter Akribie und enormen Detailwissen präsentieren die beiden Autoren den deutschen Politiker aus den verschiedensten Perspektiven – genauso wie sie es mit ihm nicht zuletzt wegen dessen Autobiographie („Wir sind zu unserem Glück vereint“) schriftlich vereinbart hatten: „Multi-perspektiv“ sollte das Werk einen Mehrwert darstellen und neue Einsichten liefern. Diese Anforderung haben die Autoren voll erfüllt. Sie fokussieren sich auf die europäischen politischen Aktivitäten Pötterings, insbesondere im Rahmen des Europäischen Parlaments. Pöttering, der dort 1979 im Alter von 33 Jahren als jüngstes Mitglied der EVP zum ersten Mal seinen Sitz eingenommen hatte, fungierte 2007 bis 2009 als dessen Präsident.
Pöttering ist und war immer überzeugter Europäer, der weiß, dass wir unsere Werte nicht als selbstverständlich ansehen dürfen, sondern Tag um Tag darum kämpfen müssen. Das Buch geht seinen Wurzeln nach, seinem Aufwachsen im Niedersachsen der Nachkriegszeit als Halbwaise mit Mutter und Bruder, es verfolgt seinen Weg nach Europa über die Junge Union der CDU, seine substantiellen politischen Beiträge in verschiedenen Komitees, seine Wahl zum Vorsitzenden der EVP mit 94% (!) der Stimmen (mit zweimaliger Wiederwahl) und schließlich als Krönung seiner europäischen Karriere seinen Wahl zum 12. Präsidenten des Europäische Parlaments. Claude Juncker stellte einmal über Pöttering fest: „Europa war für ihn immer eine Frage der Überzeugung und nicht des politischen Kalküls…Er hat unermüdlich daran gearbeitet, den Europäischen Traum zu verwirklichen.“
Doch Pöttering blickte auch über den Tellerrand des Europäischen Parlaments. Nicht zuletzt als gläubiger Katholik war er eine treibende Kraft der deutsch-polnischen Aussöhnung. Für ihn war diese die Voraussetzung zur deutschen Wiedervereinigung. Anbetracht der Notwendigkeit geschichtlichen Bewusstseins und der Weitergabe geschichtlichen Wissens gerade in Europa mit seiner komplexen Geschichte initiierte Pöttering auch die Errichtung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel, welches 2017 eröffnet wurde, denn „wir müssen aus der Geschichte lernen, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.“
Für den österreichischen Leser ist u.a. die Darstellung der „Causa Austria“ im Jahre 2000 nach der Bildung der ÖVP/FPÖ- Regierung interessant, weil sie einen präzisen Einblick in das politische Räderwerk in Brüssel und das Tauziehen zwischen den involvierten Politikern bei der Beilegung des Streites gibt, die schließlich zur Aufhebung der „Sanktionen“ führte. Aber auch die Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei und die EU-internen Diskussionen im Dezember 2004 darüber werden ausführlich behandelt, etwa das erfolgreiche Zusammenspiel von Pöttering und BK Schüssel mit dem Ziel, die Beitrittsverhandlungen mit allen Staaten „ergebnis-offen“ zu führen, was im Gegensatz zu den bisherigen Usancen stand. Bekanntlich setzte sich dann beim Außenministertreffen in Luxemburg im Jahr darauf AM Plassnik gegen alle anderen 24 Staaten durch, bis im Austausch gegen das österreichische Veto gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei die Zustimmung zur Eröffnung der Verhandlungen mit Kroatien gegeben wurde, welches acht Jahre später Mitglied der EU wurde.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Europäischen Parlament übernahm Pöttering bis 2017 den Vorsitz der einflussreichen Konrad-Adenauer-Stiftung, der Denkfabrik der CDU in Berlin, die auch in über 80 Büros im Ausland vertreten ist. Seit 2019 ist Pöttering Vorsitzender des Kuratoriums des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel.
Der beeindruckende Lebenslauf von Hans-Gert Pöttering ist in diesem grundlegenden Werk umfassend und systematisch dargelegt. Es enthält für alle, die sich für Europa und für europäische Politik interessieren, nicht nur eine Vielzahl von spannenden Details und konkreten Einblicken in das prozessbestimmte Werden der Europäischen Union, sondern atmet auch den europäischen Geist, den dieser Kontinent so notwendig hat – heute wie selten zuvor. Als Hilfe für den durchschnittlichen Leser darf eine Zeittafel moniert werden, die das stringente Werk ideal ergänzen würde.
Es besteht für den Rezensenten kein Zweifel, dass das vorliegende Buch als wertvolle Basis für weitere Forschungen über die Geschichte des Europäischen Parlamentarismus dienen wird. Wer sich dafür interessiert, findet eine Fülle von Themen, die es verdienen, noch weiter ausgebaut zu werden.
Christian Prosl
„A European Conscience“ – A Biography of Hans-Gert Pöttering
Michael Gehler und Marcus Gonschor
John Harper Publishing, London, 2022
ISBN 978-1-8380898-9-4