Ausgabe Oktober 2024: Auslese. Marias Bücherblog

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Zwischen Abraham-a-Sancta-Clara, Salzsäure und Tischsitten:

Die Weltformel der deutschsprachigen Literatur

Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“ lässt Jorge Luis Borges eine Romanfigur in „Die letzte Reise des Odysseus“ sagen. Ich durchsuche meine Bibliothek: Irgendwann hatte ich dieses bestimmte Buch mit der Geschichte, die ich wieder lesen will. Oder stand die Geschichte einst im Schullesebuch bzw. Buchklub-Jahrbuch? Oder in einem Kalender? War sie in einem der kürzlich entsorgten zerschlissenen Reclam-Bände, halb aufgelöst durch Schülerschweiß mit umgeknickten Seiten? Ich muss wohl in die Bücherei oder in die Buchhandlung – vielleicht, dass es eine Neuauflage gibt – oder… ich tippe ins Suchfeld meines Browsers www.projekt-gutenberg.de – und gerate direkt ins von Jorge Luis Borges beschworene Paradies. Unter Umständen werde ich so schnell nicht wieder auftauchen, denn ich lese mich unter dem Submenü Autoren mit „Abraham-a-Sancta-Clara“ beginnend durch bis zum Autor mit dem wenig geläufigen Namen „Leo Zznafer“ (nein, das ist kein Tippfehler), einem deutschen Autor, über den man nur weiß, dass er im frühen 19. Jahrhundert Räuber- und Spannungsgeschichten geschrieben hat. Er ist der Autor mit der Nummer „2.612“. Bei der Nummer 980 fänden wir die Mystikerin und Medizinerin Hildegard von Bingen, bei Nummer 1494 die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder, bei 2004 Friedrich Schiller, bei 2251 einen Politiker und Staatsmann der Weimarer Republik, der auch ein Anzug-Role-Model war – genau: Stresemann. Und so weiter.

Was, wenn mich ein Genre interessiert und nicht ein einzelner Literat, eine Literatin? Dann durchsuche ich – weil ich zuvor auf https://www.projekt-gutenberg.org/info/texte/lesetips.html vorbeigeschaut habe, die großen Gruppen Belletristik, Sachbuch und Philosophie, die sich weiter differenzieren. So finde ich etwa unter „Science-Fiction“ Egon Fridells „Reise mit der Zeitmaschine“ oder unter „Sachbuch“ in der Kategorie „Ratgeber“ Hedwig Dranfelds Buch „Der gute Ton für die heranwachsende Jugend“, das grade mal 101 Jahre alt ist. „Die Haltung bei Tisch sei gerade; weder das Anlehnen an die Stuhllehne noch nach vorn an die Tischkante ist gestattet. Die Hände werden nicht auf den Schoß gelegt, sondern zu beiden Seiten des Tellers etwa bis zum Handgelenk auf den Tisch. Die Ellenbogen dürfen natürlich niemals aufgestützt werden.“ Da fällt mir der Name einer Imbisskette ein – warum bloß? Ist es aktueller, wenn man im Bereich Philosophie in Jean Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ hineinliest? Jedenfalls kann ich, ganz ohne haptisches Buch oder E-Book, Bücherei, Buchhandlung nur mit meinem Computer, eintauchen in die schier unendlichen Welten des Projekts. Einmal haben wir es in diesem Jahr schon getan: Johannes von Tepls „Der Ackermann“ habe ich auf diese Weise neu gelesen.

Wie ist das möglich?  Das hat damit zu tun, dass im Jahr 1989 Sir Tim Berners-Lee eine „Sprache“, entwickelt hatte, mit der im Internet verbundenen Computer Daten ausgetauscht werden konnten: das „World Wide Web“ entstand. 1993 wird es öffentlich und bereits 1994 entsteht „Gutenberg DE“ (als ein Beitrag zu Förderung und Stärkung der deutschen Kultur und Sprache) als weltweit größte deutschsprachige Volltext-Literatursammlung. Und sie ist kostenlos! In den meisten Fällen stammen die Texte von Autoren, die vor mehr als 70 Jahren gestorben sind und deren Werke daher „gemeinfrei“ sind, das heißt: Sie unterliegen nicht mehr dem Urheberrecht.

Und wer macht´s? Wieder einmal Freiwillige: in einem Projekt ist das verteilte Korrekturlesen von Bücherseiten organisiert; werden Bücher werden erworben, eingescannt und einer Texterkennung unterzogen; es erfolgt Nachkorrektur, Formatierung und Bebilderung und Archivierung (bestaunen sie alte Covers und Illustrationen!).

Was gilt für die Texte? Sie können zeitlich unbegrenzt für private Zwecke und beliebige Lesegeräte genutzt werden. Für solcherart erstellte Texte wird kein Verwertungsrecht geltend gemacht. Ein Herunterladen kompletter Texte ist nur eingeschränkt möglich, weil das Unternehmen Hille & Partner GbR (das die Aufbereitung der Texte vornimmt) gewisse Rechte bei kommerzieller Nutzung beansprucht. Private Nutzung für den Hausgebrauch ist möglich. Sollte eine kommerzielle Nutzung angestrebt werden, fallen Lizenzgebühren an.

Und wenn ich doch eine Vielzahl an Daten für Fälle, in denen ich kein Internet habe, verfügbar haben will? Das Projekt Gutenberg-DE bietet dazu gemeinsam mit dem Hamburger Verlag Tredition die ersten der vielen vergriffenen Werke wieder als gedruckte Bücher im Handel an.

DVDs sind ebenfalls erhältlich.

Was gibt es Neues und Zusätzliches? Laufend erfolgen Updates – entweder weil Rechte nach der 70-Jahr-Klausel gemeinfrei werden oder deren Benutzung erlaubt worden ist bzw. weil ältere Bücher eingescannt wurden, so etwa vor Kurzem „Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon in deutscher Nachdichtung von Paul Zech“. Im Vormonat ist die „Gutenberg-DE Edition 16“ (die erste Auflage auf Datenträger ist vergriffen), erweitert und verbessert erschienen. Anzumerken ist, dass das „Gesamtwerk von Sigmund Freud“ (in den Formaten HTML, PDF, EPUB und MOBI), sowie „100 erotische Werke der Weltliteratur“ (ebenfalls in diversen Formaten) und E-Books erhältlich sind. Wer sich für den Ablauf der Digitalisierung Interessiert, kann das PDF „Vom Antiquariat zum E-Text“ ansehen. Auch die Hinweise zu Rechtschreibung und Werktreue sowie Fußnoten an der Verweisstelle sind Interessierten zu empfehlen.

Zum Schluss etwas Skurriles aus der Datenbank im Bereich Sachbuch: Die Fundgrube „1000 praktische Tipps“ (https://www.projekt-gutenberg.org/anonymus/fundgrub/fundgrub.html ) enthält manches, das sich heute auf Social Media „Life-Hacks“ nennt. Einige davon haben sich überlebt, so ist etwa Tipp Nr. 28 („Lebertran und Rizinusöl schmecken angenehm, wenn vorher Apfelsinenschale kleingekaut wird“), infolge wohlschmeckenderer Design-Produkte aus der Drogerie oder Apotheke obsolet.
Abgekommen ist auch das Referenzobjekt von Tipp 689: „Atlas- und Brokatschuhe putzt man mit einem Brei aus Benzin und Magnesia“. Tipp 791 dagegen gerät wieder nahe an die schon genannten Kniffe für das Alltagsleben: „Eine alte Rasierklinge, in einen Korken gesteckt, ist ein ideales Trennmesser“ – sofern man(n) noch eine Rasierklinge benutzt! Zu den 1000 Tipps gibt es dann noch als Bonustrack zusätzliche, von denen einer (Nummer 1007) schauerlich anmutet: „Ein Kater wird gemildert, wenn man ein Glas Wasser mit 6 Tropfen Salzsäure nimmt.“ (Wurden hier etwa NaCl und NaclO2 verwechselt?)
Bitte nicht ausprobieren, denn weder Gutenberg-DE noch der anonyme Verfasser der Tipps oder die Autorin des Bücherblogs können haftbar gemacht werden. Und schließlich will ich meine Leserinnen und Leser ja auch noch im kommenden Monat bei guter Gesundheit wissen:

Im November 2024, im Monat, in dem die BuchWien stattfindet, wird es ganz aktuell. Suchen und finden Sie das Buch dort als einen Debutroman der besonderen Art oder orientieren Sie sich im Blog: Maria Bidian. Das Pfauengemälde. Zsolnay, 2024.