Ausgabe Mai 2024: Auslese. Marias Bücherblog

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Prosaisch über Räume reden. Gwendolyn Leick: „Franckstraße 31“

„Raumprosa“, so lautet der Untertitel des Buches. Die Autorin zeigt am eigenen Beispiel, dass den Aktionsradius des Menschen, seit er sesshaft geworden ist, Räume bestimmen: Klein, groß, geschlossen, offen.

Systematisch geht Gwendolyn Leick vor, wenn sie das Haus, in dem sie ab 1960 mehr als zehn prägende Jahre verbracht hat, zum Thema ihrer Geschichten macht: Die „Franckstraße 31“ liegt in einem gründerzeitlichen Wohnviertel nahe der Universität. Von außen ist das Gebäude (im Grazer Architekturverzeichnis) schnell beschrieben: „Freistehendes dreigeschossiges Wohnhaus, errichtet 1903-04 von Stadtbaumeister Karl Walenta für Ferdinand Körösi, Glas- und Geschirrhändler in Graz (gest. 1.2.1916). Die späthistoristische Fassade im altdeutschen Stil, an der Straßenseite ein Rechteckerker am flachen Portalrisalit, dieser mit Walmdach über dem turmartigen Abschluss in der Dachzone. Die Gartenseiten mit geschwungenen Giebeln.“ Das „Körösi“-Haus fällt in die Kategorie „gefährdet“. Von diesem Haus, einem von vielen gleichartigen, und von ihren Jahren darin erzählt Leick.

Doris Dörrie lehrte mich in einem Workshop „Schreib, als würdest du durch eine Kamera blicken“ und lud ein, die Räume der Kindheit, aufgeladen mit so vielen widersprüchlichen Gefühlen, nochmals zu betreten. Genau das tut Leick. Wer ist die Erzählerin, die 2022 als 71-jährige gestorben ist? Die Siebzehnjährige auf dem Buchcover sieht uns fragend, melancholisch, ja in gewissem Sinne ratlos an: Wer soll ich schon sein? Eine, die erzählt.

Sähen wir Ruth Kaaserers preisgekrönten Dokumentarfilm „Gwendolyn“ aus dem Jahr 2017 so wäre zu erfahren, dass sie zwei Romane geschrieben hat, dreifache Weltmeisterin im Gewichtheben ist und Enzyklopädien über das alte Mesopotamien geschrieben hat. Durch 22 Zonen des Hauses, in dem sie vom neunten Lebensjahr an wohnt, vom Eingang auf der Straße her bis zum Dachboden, führt sie in 22 Geschichten. Die Räume bilden eine Konstante, während das Leben zwischen neun und neunzehn sich im Minutentakt ändert.

Lichteinfall, Wege, Gerüche tun was zur Sache. Wohlfühl- oder Ekelzonen entstehen. Es gibt neutrale Plätze, Begegnungszonen, Orientierungspunkte. In Räumen, die wir teilen, entwickeln sich Regeln und Gewohnheiten. Das gilt für ein Zimmer, eine Wohnung, ein Haus und ist wohl Sinnbild für das Zusammenleben an sich. Da wäre die Straße die, auf Grund ihrer Ausrichtung eine sonnige Straße ist. Das tut was zur Sache. Dann die Fassade, die das freistehende Haus wie ein Palais erscheinen lässt. Das Stiegenhaus schließlich, das über den Souterrain und „ebene Erde“ ins Hochparterre und in den „ersten Stock“ (und einige weitere Stockwerke) führt. Alles ist aufgeladen mit Erinnerung, nicht nur das Haus wird erzählt, sondern auch die Geschichte vom Vater, dessen Tod der Grund für die Übersiedlung hierher war. Abstellraum, Waschküche, Bügelkammer (jetzt Arme-Leute-Wohnung), Hausbesorger – alles das gehört zu einem solchen Haus. Und der Garten natürlich. Die Zimmerflucht in den Leick´schen Räumen grenzt sich ab durch das Türschild „Leick“ bekannt. Schlicht und einfach. Und doch ist klar, dass hier eine Arztwitwe, eine „Frau Doktor“, wohnt. Im Vorzimmer ein Telefon, noch keine Selbstverständlichkeit im Jahr 1960. Das Wohnzimmer butzenscheibenverglast und sakral anmutend. Das Zimmer der Mutter, gleichzeitig „das Schlafzimmer“, ein ernstes Zimmer mit dem Barockschreibtisch „aus der Herdergasse“ (dem Jugendort der Mutter, nicht minder großbürgerlich als die Franckstraße). Im „Herrenzimmer“ mit dem weißen Kachelofen wohnen im ersten Jahr Gwendolyn, ihre Schwester und ihr Bruder, dann der Bruder allein und die Mädchen bekommen jeweils ein Dienstbotenzimmer (!), beschrieben als „Brutstätten des Erwachsenwerdens“. Immer wieder enthalten die Erzählungen höchstpersönliche Informationen individueller oder vergleichender Art („Meine Schwester war ein viel hübscheres Kind, als ich es je gewesen bin“). Die Zimmer ähneln sich, die Mädchen nicht. Der Bruder residiert, sie arrangieren sich. Und doch sind es behagliche Zimmer, in denen man am Fensterbrett sitzend in die Gärten schauen und „Nesthäkchen“, später „Die drei Musketiere“ lesen kann. Von dort aus zieht Gwendolyn „nach der ersten Regelblutung“ in die Abgeschiedenheit der Veranda. Das Badezimmer mit mediterran anmutendem Terrazzo ist, anders in den meisten Wohnungen, geräumig, funktional und hell. Amüsiert erzählt sie von jenem Raum, der in den Einreichplänen einmal als „CL“ (nobler, für Closett), ein andermal als „AB“ (gewöhnlicher, für den Abort) bezeichnet wird. Er enthält, jeweils als Versteck, einen Entlüftungsschacht.  In der Küche versammelt sich am Küchentisch die Familie Leick und lebt das Leben in seiner Vielfalt. Und dann gibt es noch die „Speis“, wie die Speisekammer genannt wird und an deren Befüllung man die (nicht vorhandene) Ambition der (Nicht-)Hausfrau ablesen kann. Im zweiten Stock und in den Mansardenwohnungen wohnen Mieter, mit denen man sich auf ein freundliches, doch eher distanziertes Miteinander einigt. Auf dem Dachboden wird Wäsche getrocknet. Und so prosaisch wie die Erzählung beginnt, endet sie hier oben jäh mit der Bemerkung „Dann traten die Balken und Traggerüste des Dachs, die dicken Bohlen der Böden in ihrem Wesen als etwas Festes und Beständiges in Erscheinung, als etwas dem Feuchten der Erde Enthobenes, Schweigendes, indem die Zeit sich zu Staub verdichtet.“ Der höchst gelegene, allen gehörende, Raum scheint in besonderer Weise Austragungsort einer funktional-technischen Gesetzmäßigkeit, die auf den unbedeutend scheinenden Menschen einwirkt.

Gwendolyn Leicks „Raumprosa“ führt horizontal und vertikal durchs eigene Innere und Äußere, durch das zeitliche und räumliche Davor und Dahinter. Im Flanieren und Erkunden vergeht Zeit. Und die verändert weniger die Räume als die, die durch sie hindurchschreiten. Die Hausbegehung in der „Franckstraße 31“ steht durchaus metaphorisch für das entlanggehens der Stufen zum Erwachsenwerden.

Zum Durchschreiten eigener Lebens-Räume findet sich hier – falls nötig – eine literarische Anleitung, in jedem Fall aber eine lesenswerte Sammlung von Mikrogeschichten.

Gwendolyn Leick. Franckstraße 31. Raumprosa. Edition Korrespondenzen. Reto Ziegler, Wien 2021. ISBN: 978-3-902951-67-0

Im Juni 2024 bleiben wir räumlich in der Steiermark und besuchen in Wildon den mittelalterlichen Dichter, Ministerialen und Politiker „Herrand II. von Wildonie“ (* um 1230 Wildon; † um 1278), den Schwiegervater des Ulrich von Liechtenstein. In seinem „Bîspel“ (der Fabel) „Von der katzen“ finden wir uns in einem Thema der Zeit: die Gier nach dem Ultimativen, dem „Besten vom Besten“, für das ohne lange Überlegung ein Treuebruch begangen wird.