Die Hundertjährige, die durch das Dorf spaziert. Über Ilse Helbichs Dorfgeschichten: „Wie das Leben so spielt“
Jonas Jonassons Hundertjähriger („Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, München, carls books der Penguin Random House Verlagsgruppe, 2011) reist durchs Weltgeschehen. Die hundertjährige Ilse Helbich bleibt kleinräumig. Ihr Buch ist ein schmales Lesebändchen. So laut lachen werden wir nicht wie bei Jonasson. Aber möglicherweise lässt es uns mindestens so nachdenklich zurück.
„Irgendwann muss man die Feder weglegen, auch im übertragenen Sinn“ so sagte die Ausnahmeliteratin am 21.10.2022 in einem Interview und am 26. Jänner dieses Jahres hat sie es – hundertjährig! – getan. Geboren im Jahr 1923, ist Ilse Hartl unspektakulär großbürgerlich (wer bei ihrem Namen an „Hartl-Haus“ denkt, hat Recht: Sie ist die Tochter des Bauunternehmers Friedrich Carl Hartl). Zwar wäre das Mädchen gerne in die Firma eingetreten, doch man legt ihr, als Frau, ein Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Wien nahe; sie schließt es 1947 mit der Promotion ab. Eine Buchhändler- und Verlagskauffrau-Lehre macht sie darüber hinaus, doch nach der Eheschließung gibt sie, nunmehr Ilse Helbich, erwartungsgemäß ihre berufliche Tätigkeit auf. Sie schreibt Zeitungsbeiträge zu Wirtschaftsfragen und in einer Kolumne im Feuilleton („Die Presse“), sie verfasst Drehbücher (u.a. für die Sendereihe „Der Fenstergucker“) und Radiobeiträge, hat sogar eigene Sendereihe. Nach 30 Jahren erfolgt das Ehe-Aus. 2003, als Achtzigjährige, veröffentlicht sie ihren ersten Roman und 2023 (da wäre sie hundert) erscheint ihr letzter: „Wie das Leben so spielt“.
Wie spielt das Leben? Sind die Akteure aktive Spieler, geprägt von Selbstwirksamkeit oder sind sie Spielball der „Umstände“. Im Gespräch mit Peter Stuiber (Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum) sagt sie, dass es sich um „Dorfgeschichten“ handle, die gerade im Trend liegen würden. Dorfgeschichten? Hört sich das nicht gefährlich klebrig an so wie „Heimatgeschichten“? Oder etwa zu groß, weil in Verbindung gebracht mit Friedrich Hebbel, Ludwig Anzengruber, Wilhelm Raabe, dem Frühwerk von Karl May (ja: auch er!) und Marie von Ebner-Eschenbach? Jedenfalls ist es Kurzprosa, kann Novelle oder Roman sein. Und es scheint immer noch eine aktuelle Erzählform zu sein, die sie nicht als Einzige beherrscht; auch bei Manfred Chobot („Dorfgeschichten“, Bibliothek der Provinz) heißt es im Klappentext, diese Form des Erzählens sei „eine subjektive Bestandsaufnahme einer erfahrenen Wirklichkeit“. Ilse Helbich inventarisiert also und – laut Klappentext ihres Buches – „mit einer erstaunlichen Leichtigkeit“.
Sie plaudert scheinbar absichtslos, als stünde sie mit Nachbarn am Gartenzaun. Wo genau dieser Gartenzaun sein kann, lässt sie offen, aber „das Kamptal zwischen Langenlois und Gars“ bietet (fiktive) Handlungsorte genug. Man „zoomt“ in die Gegend hinein, hält inne bei einem Professorenpaar und deren jungem Hund als „Haus- und Wandergenossen“. Der kleine weiße Hirtenhund wird bei einem Spaziergang von einem Auto erfasst. Und damit beginnt die Geschichte neue Konturen zu erhalten, denn nicht Professor Lehne ist der Protagonist, sondern dessen Haushälterin, die den Hund gesundpflegt. Wie beim Tratsch über den Zaun entstehen Wertungen („Na, der hat den Hund gar nicht verdient!“ und „Frau Riedl, die Haushälterin ist die Einzige, die sich um ihn kümmert“). Tatsächlich reißt der Hund seinem Herrchen wiederum aus und wird nicht mehr gefunden. Alles kulminiert. Die Frau des Professors stirbt. Zwischen dem Witwer und der Haushälterin scheint eine Nähe zu entstehen, doch wird Frau Riedl zunehmend schweigsamer, bedrängt von der Erinnerung des Selbstmordes ihres damals halbwüchsigen Sohnes. Was Professor Lehne damit zu tun hat, wie Frau Riedl das erfährt und was dann geschieht – ist Krimistoff reinsten Wassers. Diese, die längste Geschichte, gibt dem Buch auch den Titel. Am Ende kulminiert die Handlung, wird rasant und dynamisch und schlägt so manchen Haken.
In einer anderen Geschichte im Buch („Einfach so“) wächst einem Paar – wie den Lehnes der Hund –ein kleiner Bub namens Karim zu. „Wie ein echtes Enkelkind“ sagen sie und genau wie so ein Enkelkind, bleibt er auch eines Tages aus. Das Paar ist ein ungleiches: Eine rechtschaffene Frau nimmt einen zwielichtig scheinenden Typen auf, mit dem sie glücklich lebt, bis… Auch in dieser Geschichte, so kurz sie ist, verschiebt sich der Fokus plötzlich.
Geschichte Nummer drei, die kürzeste („Die Welten“), stellt uns einen aus der Stadt Zugezogenen vor. Was kann das für einer sein, den die Buben aus dem Ort mit einem Quietsch-Entchen in der Badewanne sitzend erspähen? Und dieser eine Bub, der als Erwachsener ein Heft des Mannes verwaltet… Wird seine Tochter, wenn sie alt genug ist, die Geheimnisse der „Welten“ entschlüsseln?
Über die Dorfgeschichten ist nicht viel mehr zu sagen, weil das klein Scheinende oft sehr groß ist. Was Ilse Helbichs literarische Vielfältigkeit betrifft, so sind im Wien-Museum-Magazin ihre Texte über Wien äußerst aufschlussreich. Ihr erster Roman („Schwalbenschrift“) ist im Libelle-Verlag erschienen, ihre anderen Bücher im Droschl-Verlag.
Ilse Helbich: Wie das Leben so spielt. Literaturverlag Droschl, Graz 2023.
gebunden, 13x18cm, 80 Seiten, ISBN: 9783990591413, € 19,00
Im August 2024 geht es im Blog weiter mit Hertha Pauli („Der Riss der Zeit geht durch mein Herz. Erinnerungen“. Mit einem Nachwort von Karl-Marcus Gauss), Zsolnay, Wien, 2022.