Ausgabe Jänner 2025: Auslese. Marias Bücherblog

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Maria Lehner: Leichtgewicht auf dem Pferderücken.

 

 

 

Stichworte zu Monika Helfers Buch „Wie die Welt unterging“

„Auslese. Marias Bücherblog“ geht in sein zweites Jahr. Die bisher zwölf erschienenen Folgen aus 2024 können Sie hier, im Bereich des Bücherblogs der Österreichischen Kulturvereinigung, nachlesen oder gesammelt auf der Homepage der Autorin: https://www.marialehnergemischtersatz.at/auslese-.-marias-buecherblog/

Januar 2025. Wir gehen in ein neues Jahr. Beschwingten Schrittes und mit guten Vorsätzen? Erinnern wir uns an Erich Kästners „Spruch für die Silvesternacht“: „Man soll das Jahr nicht mit Programmen beladen wie ein krankes Pferd. Wenn man es allzu sehr beschwert, bricht es zu guter Letzt zusammen“. Machen wir es dem Pferd nicht zu schwer und legen wir nur ein kleines Büchlein auf seinen Rücken. Es misst 21,8/15,1/4,7 cm und ist 900 Gramm schwer. Und das kann man auch noch durch 365 Tage teilen – jeden Tag eine Geschichte! Lektüre, die uns ein Jahr lang beständig reflektieren, nachdenken, weiterdenken, kurz: Literatur genießen und Schreibweisen erkunden lässt.

Ein Buch mit knappen Einträgen, die immer eine Geschichte erzählen. Es sind Beobachtungen über Menschen. Jeden Tag wird ein Kalenderblatt abgearbeitet; jeden Tag öffnet die „Meisterin der kurzen Form“ (die in ihrer Art zu schreiben, mit Annie Ernaux verglichen wird) ihre Werkstatt für uns.

Ijoma Mangold, deutscher Literaturkritiker, Autor und arrivierter Rezensent, bringt einerseits den „Meisterstilisten“ Johann Peter Hebel in Spiel, wenn er Monika Helfers Erzählweise in diesem Buch beschreibt und sieht andererseits in den Einzelfällen jeweils eine „geschnitzte Holzskulptur“. Das Knappe und Kantige an Monika Helfers Stil passt zu den Durchschnittsfiguren, über die erzählt wird und zum Alltäglichen, das doch gerade deshalb merkwürdig ist. Die Titel der Geschichten („Der Ohrring“, „Erbärmliche Rache“ usw.) sind gewollt unprätentiös, verraten nichts und erinnern ein wenig an Aufsatzüberschriften.

Gleich in der ersten Geschichte begegnen einander zwei unbekannte Frauen; sie tragen die gleichen Ohrringe, die auf die idente Weise – nämlich in beiden Fällen aus einer Kette der Mutter der jeweiligen Frau gemacht – angefertigt wurden. Die beiden fallen in einen Zustand „untypischer Vertrautheit“, essen bei einem Empfang die gleichen Speisen, trinken beide Rosé und gehen jeweils in ihren Zimmern zu Bett. Der Erzählerin fehlt am Morgen ein Ohrring. Der Leser vermutet Kryptisches, wird – wie so oft in den Geschichten – scheinbar absichtsvoll abgelenkt durch Erzähldetails, die die Geschichte mäandern lassen und fühlt sich wie auf einem abrupt stehengebliebenen Karussell, als der Ohrring auf unspektakuläre Art wieder auftaucht. Will uns das etwas sagen und wenn ja, was? Diese Frage wird uns in manchen Geschichten durch den Tag begleiten.

In einer anderen Geschichte wieder geht es um eine Frau, die in den Augen aller ein Luxusleben zu führen scheint: „Die Frau bekam alles von ihrem Mann. Alles. Es konnte nicht wertvoll genug sein, es musste nur ausgesprochen werden, und sie würde es bekommen. Jeder, der sie sah, bewunderte ihre Eleganz, ihren Schmuck und die Pelze.“ Das Pseudo-Paradies hat seinen Preis: Der Ehemann verlangt nur einen Gehorsam, nämlich, dass sie nicht bei ihm im Bett schläft, sondern wie ein Hund auf einer Decke davor. Das tut sie bis zu seinem Tod, genießt fortan die Annehmlichkeiten seines Erbes und letztendlich auch sein Federbett. Damit wäre alles gut, aber sie will, dass man ihre Geschichte „zur Abschreckung“ erzählt und räsoniert im knappen Schluss-Satz: “Keine Achtung vor sich zu haben, ist erbärmlich“. Bei dieser Geschichte wird das erste Mal der Märchenton spürbar.

Meine Lieblingsgeschichte ist die mit „Der Krieger“ betitelte. Er kommt aus Tschetschenien, nennt bei einer Stellenvermittlung als Qualifikation „Krieger“ befragt, ob er sich denn Altenpflege als Tätigkeitsbereich vorstellen könne, für die es „Empathie“ brauche. Er fragt, was mit Empathie gemeint ist. Nach einer Erklärung sagt er „Wenn ich ehrlich sein will, müsste ich wissen, wie der Mensch ist, mit dem ich mitfühlen soll“. Nach diesem Satz brauchte ich eine lange Denkpause. Empathie kann keine generelle Forderung, sondern nur eine Option sein. Kann man sich tatsächlich in alle und alles einfühlen wollen und können? Der zynisch scheinende Spruch des deutschen CSU-Politikers Edmund Stoibers fällt mir ein: „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht“. Heißt das, wer sich stets in alle und alles einfühlen kann, ist alle, nur nicht mehr er selbst?

Die Frage bleibt offen, denn der Riese, bekommt eine Aufgabe: er soll eine Verlassenschaft abwickeln und ein Haus leerräumen. Dabei war er „so schnell und so geschickt, dass in einer Woche alles geschafft war“ Sein Einsatz bleibt eine Dienstleistung, bei der keine Vertrautheit entsteht und es endet an der Oberfläche, ohne Wissen um die Hintergründe: „Die Leute in der Straße beneideten die kleine Frau um diesen Mann, der so vieles in so kurzer Zeit erledigen konnte“. Nicht mehr und nicht weniger.

Wer die Geschichten ernst nimmt, wird nicht mehr als eine pro Tag lesen können. So klein sie sind, so sind sie doch dicht und beanspruchen viel Platz.

In https://www.youtube.com/watch?v=9CJyayQyf8o erzählt Monika Helfer über Schreibanlässe, -situationen und -traditionen. Sie spricht von einem „Steinbruch des Schreibens“ und informiert nebenbei darüber, dass sie diese 365 Geschichten aus mehr als 1000 ausgewählt hat – eine heikle Mission. Sie macht eine „Werkstattatmosphäre“ begreifbar, in der Banales neben Außergewöhnlichem in einem kleinen Band Platz hat. Immer wieder glauben wir, einer Märchenerzählerin zuzuhören. Grausam sind diese Märchen mitunter und müssen es wohl sein.

Manchmal scheint mir, als sei Monika Helfer die Scheherezade, die überlebt, indem sie dem König 1001 Nacht lang Geschichten erzählt. 365 dichte Geschichten mögen wohl für 1001 stehen… Am Ende erfahren wir jedenfalls nicht, wie (und ob) die Welt weiterging, das müssen wir schon mit uns ausmachen.

Monika Helfer: Wie die Welt weiterging. Geschichten für jeden Tag. München, Hanser, 2024. 1. Auflage. ISBN 978-3-446-27750-2