Ausgabe August 2024: Auslese. Marias Bücherblog

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Hertha on the road. Reisebewegungen einer Exilliteratin (Hertha Pauli: „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“)

Das ist der Stoff, aus dem die Wahrheiten sind: Die Wienerin Hertha Pauli wird von Max Reinhardt nach Berlin geholt, flieht 1938 zurück nach Wien, gondelt in Folge über Zürich, Paris mit mehreren Stationen nach Marseille und Lissabon und besteigt ein Schiff nach Amerika. Sie selbst untertitelt „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“ schlicht mit „Erinnerungen“ und bezeichnet es wertfrei als „Erlebnisbuch“. Das Personenregister spiegelt die Facetten der Zeitgeschichte wider: Über Dante Alghieri, Bert Brecht, Maurice Chevalier, Max Ernst, Lion Feuchtwanger und Ödon von Horvath geht es weiter bis zu Carl Zuckmayer. Mittendrin unter Entrissenen führt sie uns in einem packenden Roadmovie durch die dunkelste Zeit vom Wiener Café Herrenhof (wir schreiben den 13. März 1938), lässt uns im Bahnabteil nach Paris mitreisen und deutet zwischen den Zeilen immer auf die Angst im Gepäck, die Angst vor dem „Schwarzen Mann“, wie es im Kinderlied heißt. Während der Führer verkündet, Österreich habe im Reich seine Heimat wiedergefunden, verliert Hertha Pauli, wie viele andere, die ihre.

Die „gehetzten Rhythmen“ der Irrfahrten werden vom Weggenossen Walter Mehring so beschrieben: „Vom Bahnhof angeschwemmt – im Strom der Massen/ Fiebernd von Schwindsucht deines letzten Gelds/ Treibst du durch Reusen immer enger Gassen/ Die abzweigen/ Zu den Absteigen/ Zu den kleinen Hotels.“ Eine Art trockenen Humors bleibt immer. Auch im von ihr zitierten „Emigrantenchoral“ Mehrings, in dem es heißt, der Emigrant trage „Die ganze Heimat und das bisschen Vaterland“ an seinen Sohlen, in seinem Sacktuch fort. Überhaupt zitiert die Autorin gern: Der Romantitel „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“ gibt einen Ausspruch des Juden Heinrich Heine aus seinem Pariser Exil wieder. Es passt daher nicht nur, sondern kann gar nicht anders sein, wenngleich viele Jahrzehnte später.

Man kann den Roman auf viele Arten lesen: als historischen Befund, literaturhistorisch, aus Frauensicht, aus psychologischer Sicht, mit dem Blickpunkt auf Entrissenheit und Zerrissenheit, als Bestandaufnahme von Exil, Emigration und Rückkehrversuch… Meine Lesart beim dritten Lesen richtet sich auf die Sphäre, in der Privates und Politisches verschwimmen. Bemerkenswert ist ihre Schilderung, dass und wie „trotz alledem“ jugendliche Lebensfreude und Literatur(produktion) in einem Prozess der Selbsttherapie wirksam werden können.

Mittendrin blitzt 1939 im Dorf Clairac (an einer Brücke, denn Brücken spielen eine Rolle!) die Schilderung einer amor fouauf. Die „Ex-Autrichienne“ kann nicht beim Tischler Gilbert bleiben. Wie im ganzen Buch fehlt auch hier die Elegie. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.

Wege führen in unterschiedliche Richtungen und kreuzen einander wieder: Thomas Mann, die Werfels – man trifft und man verliert einander. Ohne den Menschenfischer von Toulouse, Varian Fry, später als der „wagemutigste Untergrundkämpfer des Zweiten Weltkriegs“ bezeichnet, wäre der Weg schnell zu Ende. Immer dann und dort wo es nötig ist, zeigen sich Brücken, über die man gehen kann. Um Mitternacht vom 3. zum 4. September 1940 ist es die Gangway der „Nea Hellas“, die nach Amerika ablegt. Eigentlich könnte das Buch hier enden. Es gilt aber doch, auch das Aberwitzige im Auge zu behalten, wenn die Exilanten bei ihrer Ankunft von Reportern umringt befragt werden „Ist keine Aristokratie dabei?“ Tja, enttäuschend, nur Schriftsteller! Oder als sie gezwungenermaßen an Eleanor Roosevelt beim Welcome-Dinner freundliche Worte richtet – auf Französisch.

Karl Marcus Gauss würdigt Hertha Pauli (es sei hiermit daran erinnert, dass ihr Bruder Wolfgang Pauli der Physik-Nobelpreisträger von 1945 ist) in einem Nachwort als die Frau, die sich nicht als Halbjüdin, sondern als „Halbchristin“ bezeichnet für ebendiesen Blickpunkt: Das halbvolle und nicht das halbleere Glas ist es, aus dem sie unverdrossen das (über)lebensnotwendige Elixier zu sich nimmt.

Am Döblinger Friedhof findet sich bei den Ehrengräbern der schlichte Hinweis: Hertha Pauli, 1906-1973, Schauspielerin, Autorin und Journalistin. Hinter dieser Information steckt viel Leben und im Leben viel Literatur:

  • Ein Frauenleben für Ferdinand Raimund. Roman. Wien: Zsolnay 1936
  • Nur eine Frau. Bertha von Suttner. Biographischer Roman. Wien / Leipzig: Zeitbild-Verlag (1937)
  • Alfred Nobel. Dynamite King-Architect of Peace. New York: Gottfried Bermann Fischer 1942
  • Silent Night. The Story of a Song. New York: Knopf 1943
  • The Story of the Christmas Tree. Boston: Houghton Mifflin 1944
  • Jugend nachher. Wien: Zsolnay 1959 [Neuauflage im Milena Verlag 2019]
  • Her Name was Sojourner Truth. New York: Appleton-Century Crofts 1962
  • Der Riss der Zeit geht durch mein Herz. Ein Erlebnisbuch. Wien: Zsolnay 1970

Hertha Pauli: Der Riss der Zeit geht durch mein Herz. Zsolnay, Wien, Ausgabe 2022. 251 Seiten. 25 Euro

Im September geht’s nochmals in idyllische Landschaften: Von der Steiermark auf die Insel Procida vor Neapel und zurück in ein Winzerhaus im Sausal, wo um ein Haar…

Lilian Faschinger: Die Unzertrennlichen. Roman. DTV München, 2014.