Gestorben wird immer.
Über die Aktualität des Textes „Der Ackermann“ des Johannes von Tepl
Ein paar Leserinnen und Lesern mag dieser Beitrag bekannt vorkommen, war er doch einer meiner Beiträge im „Seminar auf Rädern“ anlässlich einer Reise der Österreichischen Kulturvereinigung. Als 2022 die deutschsprachige Variante „Saaz“ für Žatec als eines der Ziele dieser Reise auftauchte, hörten wir manchmal ein „Ah!“, das weniger dem unprätentiösen Ort, auch nicht dem dort reichlich wachsenden Hopfen und ebenso wenig der Tatsache, dass Kafka hier geboren ist, geschuldet ist. Vielmehr hatten manche in ihrer Schulzeit von der damit verbundenen Dichtung „Der Ackermann aus Böhmen “ gehört: Als Johannes de Tepla, Johannes Henslini de Sitbor oder Johannes von Saaz kennen wir ihn. Um 1350 soll er in Žatec geboren worden sein. Warum vermittelte man uns in der Schule gerade dieses Textdenkmal? Ist das Werk so etwas Besonderes? Nicht alle von uns haben es schon in ihrer Schulzeit würdigen können.
Und doch: Der „Ackermann“ ist für diese Zeit ultramodern und in vielem Vorbild für spätere, ja auch heutige, Variationen des Themas. Was da um 1400 in frühneuhochdeutscher Sprache verfasst worden ist und 1460 erstmals in Bamberg im Druck erschienen, steht an einer „Türschwelle“ zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit und ist aus mehreren Gründen etwas Besonderes:
- Technisch gesehen handelt es sich um eine „Inkunabel“, also einen Wiegendruck: Es gibt nicht mehr als 550.000 Stück solcher aufwändig hergestellten frühen Drucke.
- Das Nachdenken über den Tod war neu. Die mittelalterliche Epik, das glanzvolle Nibelungenlied und der Minnesang hatten das ausgespart. Plötzlich aber geht es um den großen Gleichmacher und Verhöhner der Standesunterschiede (was für ein „demokratischer“ Ansatz!) – und das in unerwarteter Heftigkeit und schrillen Tönen.
- Erstmals findet sich in der deutschen Literatur ein Beleg dafür, dass der Mensch Gottes Allmacht anzweifelt, indem er sich gegen den Tod auflehnt.
- Dies ist einer der ersten Texte, der die Ehe nicht als Zweck-, sondern als Liebesgemeinschaft beschreibt und
- es ist einer der ersten Texte, in dem die Volkssprache zugerichtet wird, um den Ansprüchen des Dichters zu genügen: Aus dem Humanistenlatein kommt ein anmutiger Frömmigkeitsstil; eine Vielgliedrigkeit der Sätze… Ohne dieses Geschmeidig-Machen der deutschen Sprache hätte der Ackermann nie zu dem werden können, was er ist.
Der Autor schrieb den Text im Sommer 1400 oder erst im Jahr 1401. Er tat dies auf eine Weise, die jeden Satz zu einer gedrängten Demonstration von Kunstformen macht. Variationen des Ausdrucks, die Satzkonstruktionen, Gleichnisse und das Spiel mit These und Antithese bilden den stilistischen Rahmen für ein außergewöhnliches Textdokument. Opulenz in Reinkultur!
Eine der Fragen, die schnell auftauchen, ist: Verarbeitete der Mann den Tod seiner eigenen Frau Margarethe, schrieb er sich mit diesem Text frei? Er war jedenfalls erstaunlich gut darin, zu sagen, was er erleidet. Von Interesse ist auch die Dynamik des Schmerzes, die von wüster, empathischer Beschimpfung, dreimaliger Verfluchung und Anklage des Todes zu jäh ausbrechender Wehklage einer geschändeten Kreatur gerät: Grimmiger Tilger aller Leute/ Schändlicher Ächter aller Wesen/ Schrecklicher Mörder aller Menschen/ Euch sei geflucht! Es scheint, als ob der Kläger anfangs einen mittelalterlichen Mord- und Raubprozess einleiten würde. Schmerzlich realistisch brandmarkt er den Tod, unerbittlich minutiös schildert er ein Massensterben, bei der jeweils etwa 3000 Mann aufeinander losstürmen. Das Nibelungenlied nennt die Dinge nicht mit solcher Präzision beim Namen. Bei allem, was er inhaltlich zu sagen hatte, schuf er auch eine perfekte Form: 34 Kapitel hat seine Schrift. In ungeraden Kapiteln hadert er mit dem Tod, in geraden Kapiteln kommt der Tod zu Wort; der begegnet den Emotionen des Ackermanns mit Logik, stellenweise auch mit Zynismus. Im vorletzten Kapitel erst tritt Gott auf und sagt lapidar, dass alles Leben irgendwann enden müsse – eine moralische Begründung dafür bleibt er schuldig. Und er befindet: dem Anklagenden, dem Ackermann gebühre Ehre, der Sieg aber dem Tod. Das Schlusskapitel ist eine Lobpreisung Gottes, die Aussöhnung mit ihm.
Bautechnik also, Kenntnis von Stilmitteln und ein Gespür für das Umsetzen psychischer Prozesse und eine Fähigkeit zum Dramaturgischen hat der Schreiber: Eine Anklage beginnt. Und eine Verteidigung. Und eine Vermittlung. Drei Figuren sind es, die da reden: Der Ackermann, der Tod und schließlich Gott. Der Tod gibt gleich zu Beginn bekannt, dass die Chancen für den Ackermann schlecht stehen, lädt ihn aber ein, sich vorzustellen und der Ackermann sagt: Ich bins genannt ein Ackermann/ von Vogelwat ist mein Pflug/ Ich wohne in beheymer Lande. Von vogelwat ist sein Pflug, eine Vogelfeder also? Die Schreibfeder ist sein Werkzeug – damit bedient er sich des rätselhaften Stils, den damals Meistersinger pflegten. Nun reiht er Bescheidenheitsformeln aneinander, macht das; was man heute Understatement nennt, entschuldigt sich für seine ungefüge rohe Sprache und für die sperrige Mundart, als die er das Deutsch seiner Zeit bezeichnet. Diese Abwendung von der Volkssprache kennzeichnet die Schrift als Dichtung an einer Zeitenwende.
Wer ist der, welcher sich da Ackermann nennt und der, wie bald klar wird, nicht im Wortsinne einer ist? Dieser Mann ist kein Priester – das ist bedeutsam, denn nur verheiratete Laien konnten Liebesglück und Liebesleid persönlich erfahren. In etlichen Urkunden trägt er einen Magistertitel. Möglicherweise hat er an der 1348 gegründeten Prager Universität, der ersten des Deutschen Reiches, studiert. Es scheinen Aufbaustudien in Bologna, in Padua oder in Paris gefolgt zu sein. Saaz wird seine Hauptwirkungsstätte; dort ist er Kaiserlicher Rat, Rektor, Stadtschreiber. Er belesen und besitzt Handschriften. Ab 1411 lebt er als Stadtschreiber in Prag. 1413 stirbt er und hinterlässt eine Frau und fünf Kinder. Würde man den Text biografisch deuten, wäre das seine zweite Frau gewesen.
Ist der Ackermann ein Anti-Orpheus? Eurydike kommt um durch den Biss einer Schlange. Orpheus steigt in die Unterwelt hinab, rührt durch seinen Gesang die Götter zu Tränen – Eurydike kehrt zurück. Dem Ackermann gelingt es nicht, Gefühle zu erwecken oder zu verhandeln – aber auch Orpheus hilft es nicht: Er dreht sich nach Eurydike um und alles geht schief…Orpheus unterliegt also letztlich.
Der Tod bei Ackermann ist arrogant, jedoch gelehrt und – frauenfeindlich! Frauen werden als ganzer Unflat, als Kotfaß, faules Aas usw. bezeichnet. Paraphrasiert sagt der Tod auch Drum nimm und zieh ab dem schönsten Weib des Schneiders Zutat – so siehst du eine schmähliche Puppe und schnell verwelkende Blume und kurz nur dauernden Glanz und einen bald verfaulenden Erden Klumpen. Diesem Zerrbild setzt der Ackermann das Bild des ganzheitlichen Menschen entgegen: Für alles Leiden und Ungemach war sie mein wirksames Heilungskraut. Was der Tod, darauf sagt, ließe sich ins heutige Deutsch übertragen mit der Frage, ob er sein Weib denn so gut vorgefunden habe oder ob er es so zum Guten verändert habe. Damit bringt er ihn in eine Zwickmühle: wenn du sie so vorgefunden hast, wirst du auch jetzt nach ihrem Tod noch andere vorfinden, wenn du sie erst dazu gemacht hast, dann bist du ja ein Meister in der Frauenbehandlung und wirst dir wieder eine Frau so gut herrichten können.
Der Ackermann stellt dem Tod ein positives Frauenbild entgegen; der lässt sich nicht beeindrucken und sagt, dass die Menschen nur Wollust, Habgier und Ruhmsucht die Menschen motiviert, hohe Motive stellt er in Abrede.
Der Tod – als Zeichen seiner Überlegenheit – schlägt vor, gemeinsam dem Allmächtigen gegenüberzutreten. Gott verkündet im 33. Kapitel den Urteilsspruch: der Leib dem Tod, die Seele ihm. Schließlich fügt sich der Ackermann und spricht ein Gebet für Margarethe.
Zu den schwierigsten Fragen gehört wohl zu jeder Zeit die: Falls es ein höheres Wesen gibt, warum lässt es die Menschen so leiden? Warum soll man auf ein fernes Glück im Jenseits warten? Im Mittelalter war es einfach: Der Tod ist immer präsent; das Leben dauert durchschnittlich 35 Jahre, Das Diesseits scheint nahe und ein „gottgefälliges“ Leben – weil in kurzer Lebensspanne wenig Zeit zum Sich-Bessern ist – wird vorab durch Geld (also Stiftungen oder Almosen) oder gemeinnützige Werke erkauft. Man schaffte sich so genanntes „seelgerät“ an, eine Art Jenseits-Versicherung. War das nicht gelungen, so durfte man nach dem Tod auf die Wirksamkeit der Seelenmessen und Fürbitten hoffen.
Haben wir heute mehr Möglichkeit (und Zeit) zur Umkehr und Besinnung, und: nutzen wir sie? In westlich- kapitalistischen Gesellschaften begegnet uns der Tod ständig in den Medien, in unterhaltenden Filmen und in der Literatur. Anders als im Mittelalter ist er jedoch im eigenen unmittelbaren Leben nur wenig präsent und erfolgt diskret, meist nicht im eigenen Heim. Keine Zeit für Trauer: Bald wird das Berufs- und Alltagsleben wieder aufgenommen. Umso mehr ist aber heute etwas von für uns wichtig, das wir im Ackermann von Böhmen wiederfinden, nämlich die Trauerbewältigung.
Die Trauerphasen beim Ackermann korrespondieren erstaunlich deutlich mit dem von Verena Kast entwickelten Phasenmodell: Phase 1 „Nicht-wahrhaben-Wollen, Verleugnung und Schock“; Phase 2 „Aufbrechen der Gefühle“; Phase 3 „Langsame Neuorientierung“; Phase 4 „Akzeptanz des Verlusts“.
Der Ackermann will vom Tod entschädigt werden. Denken wir an das Rechtssystem der USA, in dem es möglich ist, Schadenersatzforderungen zustellen, die in die Millionenhöhe gehen. Wir kennen aus der Jurisprudenz die Tendenz zu Schmerzensgeldprozessen und bemessen Trauerschaden, Trauergeld und fordern für entstandenen psychischen Schmerz Ersatz!
Heute wie damals geht es zusätzlich darum, den Tod auszutricksen: Das tun auch „Jedermann“, „Brandner Kaspar“ (der in den Himmel schaut) und „Jack O´Lantern“. Gleiches will heutzutage die Medizin, die die ganze Bandbreite von Antibiotika bis zur Transplantationschirurgie aufbieten. Außerdem werden Tote sogar eingefroren in der Hoffnung, man könne sie wieder zum Leben erwecken, wenn ihre Krankheit heilbar geworden ist. Wir zählen auf die Wissenschaft. Der Ackermann brauchte damals noch Gottes Wohlwollen und hoffte auf die Einsicht seitens des Todes.
Wieder gelesen, neu gelesen, ermöglicht der „Ackermann…“ biografische oder allgemeine Befassung mit innerweltlichen Fragen „Was ist Glück, was ist der Sinn des Lebens, wie trauert man?“, die allezeit gültig sind. Die Themen Vergebung und Vergeltung, Klage und Akzeptanz, Ergebenheit und Steuerung sowie die Gegensatzpaare Leben und Tod machen ihn damit „ewiggültig“ und lesbar für Menschen jedes Lebensalters.
Primärquellen:
Tepl, Johannes von: Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Christian Kiening. Stuttgart : Reclam 2000. (= Universal-Bibliothek. 18075.)
Gratis-Online-Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/tepl/ackerman/ackerman.html
Sekundärquellen:
Beitinger, Wolfgang: Der Ackermann aus Böhmen Ein Kleinod deutsch-böhmischer Literatur um 1400. Mitschrift eines Vortrags von 10.03.2004 im Gablonzer Haus (Kaufbeuren).
Ebner, Claudia: Der Ackermann des Johannes von Tepl, Projektstudie. Literarische Sterbekultur des Mittelalters Ao. Univ.-Prof. Dr. Wernfried Hofmeister Sommersemester 2004. Graz: Karl-Franzens-Universität.
Kast, Verena: Trauern.Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Tübingen: Herder (Segment „Kreuz-Verlag“), 2020
Schamschula, Walter: Der „Ackermann aus Böhmen“ und „Tkadlecek“ –ihr Verhältnis aus neuerer Sicht. Bohemia (=Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder), Band 22, 1983, 307-317. München: Collegium Carolinum.
Vorschau auf Mai 2024:
In der Edition Korrespondenzen (Reto Ziegler, Wien) ist 2021 das Lesebändchen „Franckstraße 21“ von Gwendolyn Leick erschienen: 22 Geschichten entwerfen die soziologische Mikrotopologie eines gründerzeitlichen Zinshauses in einem Grazer Nobelbezirk. Vom Kohlenkeller in den Dachboden steigen wir in den Sechziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Kommen Sie mit auf diese Expedition!