Ausgabe August 2025: Auslese. Marias Bücherblog

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Maria Lehner: Wie der Hase läuft – in den Fürstenhäusern und nach dem Mauerfall

Sommerzeit, qualitätsvolle Zeit, gemeinsam genutzte Zeit mit der Familie: Lesen und darüber reden. Vielleicht über „Esterhazy“? Ich habe es auch kennen gelernt, weil ich mich mit qualitätsvoll illustrierten Kinderbüchern beschäftigt habe. Der erste Blick auf Format und Cover und vielleicht auch die Aufstellung in der Abteilung der Buchhandlung mag uns glauben lassen, dass es sich um ein Kinderbuch handelt; tatsächlich gebe ich zu, dass des Formats wegen auch in meinem Bücherregal das Buch bei den Kinderbüchern steht. Doch es ist mehrjunge und ältere Leser/innen können sich köstlich darüber amüsieren.

Der fürstliche Kaninchenblick auf die deutsche Geschichte ist ins Bild gesetzt von Michael Sowa, der die Geschichte mit seinen typisch surrealen und detailverliebten Bildern untermalt. Seine Hasen mit melancholischem Blick verleihen dem Buch eine visuelle Tiefe, die über das Illustrative hinausgeht – fast schon malerische Poesie. Erdacht ist der Text als Gemeinschaftsprojekt von zwei Großen:
Da wäre Hans Magnus Enzensberger, der lange Zeit als der bekannteste deutsche Schriftsteller galt und Irene Dische, die wir als Autorin von Büchern wie zum Beispiel „Der Doktor braucht ein Heim“ kennen – eines von denen, das die Lebensgeschichte ihres Vaters erzählt, hinter der auch ihre eigene Geschichte steckt. Die beiden verwenden für die an sich schon sehr originelle Hasengeschichte eine wunderbar ironische Erzählweise, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen anspricht.
Sie verweben politische Realität mit Fantasie und kreieren dabei ein absurdes, aber tiefsinniges Narrativ. Die Sprache ist klug, humorvoll und voller historischer Anspielungen.

Schon am Anfang steht eine lustige Botschaft „an alle Kinder, die lesen können“: „Das A in Esterhazy ist so lang wie ein Hasenohr. Und das Z ist gar kein Z, sondern ein S, so weich wie eine Hasennase. Merkt euch das! Und damit ihr es nicht vergesst, ruft bitte drei Mal ganz laut Esster-Haaasie, Esster-Haasie, Esster-Haasie!“

Und los geht’s mit beziehungsvollen Botschaften etwa, dass die Esterhazys im Lauf der Zeit immer kleiner und kleiner werden (bedenken Sie, die Handlung spielt kurz vor 1989: Die Esterházy de Galántha, einst bedeutendes Adelsgeschlecht, sind im kommunistischen Ungarn entmachtet und enteignet). Die Autoren liefern eine andere Erklärung: es heißt, dass sie nie genug Salat und Karotten vorfanden, sondern sich fast nur von Pralinen und Torten, Bonbons und Strudel ernährten.

Der Jüngste und Kleinste jedenfalls soll auf Beschluss des Fürsten ins Ausland reisen, um sich dort mit einer großgewachsenen Häsin zu paaren. Das Roadmovie „Seiner Erlaucht Michael Paul Anton Maria Prinz Esterhazy der 12.792., von Salatina gefürsteter Graf zu Karottenstetten, Graf von Endivienstein, Herr auf Petersilienburg, Lauchingen und Rübhofen“, macht die Handlung aus. In ihr mischt sich die real scheinende Erfahrung des Berliner „Exils“, die Begegnung mit Ausbeutern bei der Suche nach einer Beschäftigung und die erste Begegnung mit „der“ Häsin. Bewusst eingesetzte literarische Überzeichnung und poetisch-symbolische Verweise lassen die Geschichte zur Karikatur geraten – sie darf daher dort oder da historisch ungenau sein, weist aber mit diesen beabsichtigten Brechungen und einem Augenzwinkern auf die großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts hin. Esterhazys Reise entwickelt sich zu einer absurden, liebenswerten Odyssee durch das geteilte Berlin, bis die Mauer fällt. Was nach dem Mauerfall passiert, macht den Höhepunkt seiner Geschichte aus. Das Leben hat sich für Kaninchen und Menschen gleichermaßen verändert.
Zum Guten? Zum Schlechten?

Das 1993 in der Zusammenarbeit von einem beachtlichen Dreigestirn entstandene Buch ist eine zeitgeschichtliche Allegorie, eine Liebeserklärung an fürstliche Geschlechter, an Hasen, an Berlin – und ein Paradebeispiel dafür, wie Kunst, Politik und Humor miteinander verwoben werden können. Allen, die Literatur gerne mit einem Augenzwinkern genießen – und vielleicht mit einem (Hasen)ohr die leisen Hopser der Geschichte wahrnehmen wollen, empfehle ich „Esterhazy. Eine Hasengeschichte“ für einen perfekten Sommermoment in der Hollywoodschaukel oder gemütlich auf der Couch, wenn´s draußen regnet.
Genießen Sie es allein, mit Freunden, mit Kindern. Es gibt viel darin zu entdecken.

Irene Dische, Hans Magnus-Enzensberger, Michael Sowa: Esterhazy. Eine Hasengeschichte. Aarau, Frankfurt/Main, Salzburg: Verlag Sauerländer. 19932. ISBN: 3-7941-3616-0

Als Hörbuch (der Deutschen Grammophon Junior, Laufzeit 42 Minuten), eingelesen von Hans-Magnus Enzensberger, existiert es auch, ist aber (außer vielleicht antiquarisch) derzeit nicht lieferbar.

Vielleicht möchten Sie ihre Fremdsprachenkenntnisse aufpolieren?

Englisch: Irene Dische, Hans Magnus-Enzensberger, Michael Sowa: Esterhazy. The rabbit Prince. Image-connection, 1994. ISBN-13: ‎ 978-0970276834

Ungarisch: Irene Dische, Hans Magnus-Enzensberger, Michael Sowa: Esterhazy. Egy házy nyúl csódalatos élete. Magvető-Verlag, 2005.

Polnisch: Irene Dische, Hans Magnus-Enzensberger, Michael Sowa: Esterhazy. Historia o zającu. Nisza-Verlag, o.J.

Italienisch: Irene Dische, Hans Magnus-Enzensberger, Michael Sowa: Esterhazy. Storia di un coniglio. Einaudi, 2002.

Rumänisch: Irene Dische, Hans Magnus-Enzensberger, Michael Sowa: Esterhazy. Prinţul Iepure. Pandora; 2017. ISBN 13: 978-6069780466

Die Österreichische Kulturvereinigung wünscht einen angenehmen Lese-Sommer!