Ausgabe Mai 2025: Auslese. Marias Bücherblog

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Maria Lehner:

„Mittwochs Erika. Halb elf“. Die Freeman-Stermann-Gespräche im Hotel Imperial

„Mittwochs Erika. Halb elf“ – der Moderator, Comedian und Buchautor Dirk Stermann (laut NDR-Reporter Andreas Moll der „berühmteste Deutsche in Österreich“) hätte es nicht gewagt, sagt er, daraus einen Buchtitel zu machen. Ich muss schmunzeln – warum? Erinnert es ihn etwa noch an den 1960 entstandenen Spielfilm „Sonntags nie“, in dem Jules Dassin einen Amateurphilosophen und Melina Mercuri eine Prostituierte spielt? Der Film, den 1961 die Jugendzeitschrift „Bravo“ als „zutiefst unmoralisch“ bezeichnet hat? Ob Stermann den Film kennt oder ob der 1965 Geborene zu jung dafür ist? Erika Freeman hätte vermutlich schallend gelacht. Doch eigentlich ist der gewählte Titel ohnehin besser geeignet, Erika zu skizzieren: „Mir geht´s gut, wenn nicht heute, dann morgen“. Die damals 95-jährige, sie lebt wieder in Wien und ist mittlerweile österreichische Staatsbürgerin, sagt die Worte, als sie einmal schwer erkrankt von Dirk Stermann nach ihrem Befinden gefragt wird.

Der Moderator und Comedian, geboren in Duisburg und Erika Freeman, Jahrgang 1927, sind seit 2019 eng befreundet. Und sie sind kongenial im Parlieren, Schwadronieren, Diskutieren, Philosophieren. Sie tun es im Hotel Imperial. Seit 2019 residiert sie hier, einst ein jüdisches Flüchtlingsmädchen aus Wien („Meine Rache an Adolf Hitler… Er war nur einmal im Imperial. Ich wohne hier“). So viele schöne, tiefsinnige, teils kalauernde Sätze sagt sie. Etwa am 8. Mai 2022 als Zeitzeugin in ihrer Rede beim „Fest der Freude“ in Wien am Heldenplatz: „Der Herrgott ist so ein lieber Kerl, wenn du Geduld mit ihm hast“.

Wer ist die Frau, die Sätze hervorsprudelt, von denen sich etliche als Stammbuchsprüche eignen würden? „Wunder geschehen, man weiß nur nicht, wann“. Die Frau, die das sagt, ist geborgen in tiefer Zuversicht und der Fähigkeit, schwierige Situationen zu überstehen, ohne dauerhaft beeinträchtigt zu werden. Gelebte Resilienz. Was nicht bedeutet, dass sie empfindungslos ist und nicht leidet. Aber sie schaut immer nach vorn und hat mit dem lieben Kerl, dem Herrgott, Geduld.

Die Zwölfjährige flieht im Februar 1940 aus Wien vor den Nazis. Oder sagen wir besser: Sie wird zur Flucht angehalten. Von einer Mutter, die in unglaublicher Weise als Role-Model agiert: Man mutmaßt, dass Rachel Grau-Schächter die erste Hebräisch Lehrerin Europas gewesen sein mag und dass die Handlung von „Yentl“ ein wenig auch ihre Geschichte erzählt; die eines Mädchens, das sich als Bub verkleidet, um studieren zu können. Dass die Mutter Erika „wegschickt“, so empfindet sie es, wirkt grausam. Das Kind kann die Haltung der Mutter, die den Krieg nicht überlebt hat, nur als Zurückweisung und Abweisung interpretieren. Erika kommt zwar körperlich wohlbehalten aber mit einem ewigwährenden Phantomschmerz in New York an. Sie leidet stumm, bemüht sich darum ein gutes Kind zu sein, um von den amerikanischen Verwandten akzeptiert zu werden und landet schließlich im Waisenhaus. Was aus einem solchen Kind werden kann, möchte man fragen. Nebenbei zu arbeiten ist für sie selbstverständlich, aber nicht so einfach: Man kündigt sie an ihrer Arbeitsstelle, weil diese für Mädchen bereitstehen soll, sie nicht so klug sind wie sie. Politikwissenschaften und Psychologie studiert sie schließlich und bekommt 1947 einen Job bei der Jewish Agency of Palestine in New York. Sie gerät mitten in die Staatsgründung Israels: „Da habe ich jeden getroffen. Auch Mosche Scharet, der wurde der zweite Premierminister und der erste Außenminister. Er hat mich zu Lake Success zu den United Nations mitgebracht, damit ich zuschauen kann, wie ein Land geboren wird“. Damals begegnet sie Golda Meir: „Sie war eine Freundin von meiner Familie. Das war die kleine Familie, die das Land gegründet hat.“

Und diese Frau trifft Stermann immer wieder mittwochs im Hotel. Er eröffnet manchmal das Gespräch mit einem zentralen Satz oder einer Frage. Genauso oft aber ist es Erika, die ihrerseits eine Aussage macht, über die sich Lebensgeschichte erschließt und die sofort Aufnahme in ein „Lebenshilfe-Buch“ finden könnte: „Be happy about being a great person. Nothing changes if you are unhappy“. Kipferl und Melange gibt´s dazu. Stermann webt als Erzähler immer wieder rote Fäden ein, etwa die Beobachtung, dass die fast Hundertjährige nie ihren Kaffee verschüttet. So zielsicher wie die Jonglage sind auch ihre Beobachtungen über die Welt in der sie verkehrt. Jüdischer Humor trifft auf Wiener Schmäh (ja: das sage ich mit voller Absicht über beide – die eine, die mit ihm aufgewachsen ist und der andere, der in ihn hineingewachsen ist). Ein wenig bedaure ich es zwar, dass dieses am 17.10.2023 erschienene Buch kein Personen- und Sachregister hat, denn es wäre ein Nachschlagewerk par excellence. Aber: Es will eben aufmerksam gelesen werden, will erzählen und nicht zum Sachbuch werden.

Wenn ich es aufblättere blickt mir sofort eine attraktive heitere Person entgegen. Eine Seite weiter finde ich in der Ausgabe der 5. Auflage etwas ganz Besonderes: eine handschriftliche warmherzige Widmung aus dem heurigen Frühling „With best wishes in Freundschaft“ für Andreas und Sabine, die auch ich meine Freunde nennen darf. Und ins Buch gleiten wir mit Textzeilen von William Ernest Henley (1849–1903): Invictus. Unbezwingbar. Was könnte besser zu Erika Freeman passen? “It matters not how strait the gate, / How charged with punishments the scroll, / I am the master of my fate, /I am the captain of my soul.” Allein über die Rezeption dieser Zeilen ließe sich viel erzählen: Nelson Mandela, Barack Obama und viele andere zitierten sie – darunter ein zum Tode Verurteilter, der sie als letzte Botschaft hinterließ.

Schon nach wenigen Seiten begegnen wir Hillary Clinton, Marlon Brando, Donald Trump, Woody Allen, Mia Farrow, Liv Ullmann, John Cleese, Frederic Morton, Israel ben Eliezer (mit dem sie wohl irgendwie verwandt ist), Bruno Kreisky… Geschichten über Geschichten. Und eine besonders reizende, in der Burt Lancaster vorkommt. Doch halt, man muss wissen: „Jeder Name, den ich erwähne, war kein Patient von mir“. Immer wieder erscheinen neben ihr Margit Fischer und Markus Kupferblum – gemeinsam mit Dirk Stermann bilden die vier eine Art (Glücks)Klee-Blatt. Und es begegnen einem die Größen der Psychotherapie von Freud bis Reik… Aber lesen Sie selbst: Folgen Sie Dirk Stermann; der den Plauderton feinfühlig moduliert und uns eine Begegnung mit einer ganz Großen ermöglicht!

Dirk Stermann: Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen. Hamburg: Rowohlt (Reihe: Hundert Augen), 20245. Hardcover. 256 Seiten. ISBN 978-3-498-00374-6

 

Und diese Frau trifft Stermann immer wieder mittwochs im Hotel. Er eröffnet manchmal das Gespräch mit einem zentralen Satz oder einer Frage. Genauso oft aber ist es Erika, die ihrerseits eine Aussage macht, über die sich Lebensgeschichte erschließt und die sofort Aufnahme in ein „Lebenshilfe-Buch“ finden könnte: „Be happy about being a great person. Nothing changes if you are unhappy“. Kipferl und Melange gibt´s dazu. Stermann webt als Erzähler immer wieder rote Fäden ein, etwa die Beobachtung, dass die fast Hundertjährige nie ihren Kaffee verschüttet. So zielsicher wie die Jonglage sind auch ihre Beobachtungen über die Welt in der sie verkehrt. Jüdischer Humor trifft auf Wiener Schmäh (ja: das sage ich mit voller Absicht über beide – die eine, die mit ihm aufgewachsen ist und der andere, der in ihn hineingewachsen ist). Ein wenig bedaure ich es zwar, dass dieses am 17.10.2023 erschienene Buch kein Personen- und Sachregister hat, denn es wäre ein Nachschlagewerk par excellence. Aber: Es will eben aufmerksam gelesen werden, will erzählen und nicht zum Sachbuch werden.

Wenn ich es aufblättere blickt mir sofort eine attraktive heitere Person entgegen. Eine Seite weiter finde ich in der Ausgabe der 5. Auflage etwas ganz Besonderes: eine handschriftliche warmherzige Widmung aus dem heurigen Frühling „With best wishes in Freundschaft“ für Andreas und Sabine, die auch ich meine Freunde nennen darf. Und ins Buch gleiten wir mit Textzeilen von William Ernest Henley (1849–1903): Invictus. Unbezwingbar. Was könnte besser zu Erika Freeman passen? “It matters not how strait the gate, / How charged with punishments the scroll, / I am the master of my fate, /I am the captain of my soul.” Allein über die Rezeption dieser Zeilen ließe sich viel erzählen: Nelson Mandela, Barack Obama und viele andere zitierten sie – darunter ein zum Tode Verurteilter, der sie als letzte Botschaft hinterließ.

Schon nach wenigen Seiten begegnen wir Hillary Clinton, Marlon Brando, Donald Trump, Woody Allen, Mia Farrow, Liv Ullmann, John Cleese, Frederic Morton, Israel ben Eliezer (mit dem sie wohl irgendwie verwandt ist), Bruno Kreisky… Geschichten über Geschichten. Und eine besonders reizende, in der Burt Lancaster vorkommt. Doch halt, man muss wissen: „Jeder Name, den ich erwähne, war kein Patient von mir“. Immer wieder erscheinen neben ihr Margit Fischer und Markus Kupferblum – gemeinsam mit Dirk Stermann bilden die vier eine Art (Glücks)Klee-Blatt. Und es begegnen einem die Größen der Psychotherapie von Freud bis Reik… Aber lesen Sie selbst: Folgen Sie Dirk Stermann; der den Plauderton feinfühlig moduliert und uns eine Begegnung mit einer ganz Großen ermöglicht!

Dirk Stermann: Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen. Hamburg: Rowohlt (Reihe: Hundert Augen), 20245. Hardcover. 256 Seiten. ISBN 978-3-498-00374-6