Wahrheit und Märchen gehen Hand in Hand:
„Das Pfauengemälde“ von Maria Bidian
Dieses Buch, erschienen 2024, hat mehrfach mit der Österreichischen Kulturvereinigung zu tun:
- Derzeit stellt sich in einem Projekt der Kulturvereinigung die Frage, ob Lösungen Vergangenheit brauchen. Das ist eines der Grundthemen des Texts, denn Bidian will eine Brücke in die Vergangenheit bauen, um sich selbst und die Welt zu verstehen.
- Der Text führt uns nach Timisoara, das wir auf einer Reise der Kulturvereinigung selbst durchstreift haben. Wir sind damals eingetaucht in die Oberfläche einer Welt, die uns Maria Bidian aus der Insider-Perspektive beschreibt.
- Erinnern Sie sich an Stephan Ozsváth, der uns einst mit „Puszta Populismus“ einen spannenden Abend in der Kulturvereinigung geboten hat? Der Podcaster, Journalist
und Autor hat mich im heurigen Sommer auf dieses Ausnahmebuch von Bidian hingewiesen. In rbb vergibt er im August dieses Jahres: „…auf jeden Fall 5 Sterne für diesen zauberhaften, klugen, sinnlichen Roman, der die Zeitebenen mischt wie Blätterteigschichten im Kuchen!“
„Können wir loslassen und uns gleichzeitig erinnern?“ fragt die Protagonistin in diesem Debütroman. Ana gelingt die produktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht: in Deutschland sind Kampfsport, Eisbaden und Tagebuchschreiben bloß Ablenkungen. In Rumänien tragen Familienbesuche, die Teilnahme an einer Demonstration, Behördengänge und Zechgelage nicht dazu bei.
Liest man die Geschichte, so stellt sich mehr und mehr die Frage, ob Verletzungen heilen können, wenn sie durch das familiäre Narrativ zugekleistert sind: „Wenn ich die ganzen Geschichten nur aus meinem Körper herausschütteln könnte, dachte ich und sah mich auf der Terrasse stehen, die alten Wunden fielen wie bunte Schuppen von meiner Haut. Aber was war ich dann noch, ohne die vielen Geschichten?“ Und diese werden erzählt in der Familie als einer mehrstimmigen Erzählgemeinschaft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden modelliert und konserviert. Biografische Veränderungen im Lebensprozess erschweren die Entschlüsselung. Erzählsituation und Adressierung (wer erzählt wem wann über wen?) sowie Motive und Motiviertheit des Erzählers fließen ein. Kurz: Familienmythen treten als Vermittler des kollektiven Gedächtnisses auf.
Wie wird die Folterung des Vaters der Protagonistin erklärt, wie wird sein ungeklärter Tod erzählt? Wie in einem Krimi versucht Ana aufzudecken, was über Jahrzehnte verborgen geblieben ist. Das gilt nicht nur für ihre Familie, sondern auch für das ganze Land. Und erzählt wird mitunter Irrwitziges, wenn es etwa um eine Internetabstimmung geht, in der sich die Sängerin Maria Tănase (1913-1963, die „Piaf des Ostens“ genannt) im Beliebtheitsranking mit Jesus von Nazareth und Nicolae Ceaușescu misst.
Was macht es aus, dass eine Geschichte wahr ist? Die stetige Wiederholung? Das Daran-Festhalten, so wie Anas verstorbener Vater Nicu seine Briefmarken festhielt?
„Als könnten die bunten Papierstücke das zurückbringen, was er verloren hatte“. Bidian gibt zu, dass die Figuren zwar von der eigenen Familie inspiriert sind, sich aber eigenständig entwickelt haben. Das sagenumwobene Haus, das man zurückbekommt, ist die Behausung des Familiennarrativs: Die einen wollen es verkaufen, die anderen einfach nur besitzen oder auch renovieren. Kann so die Familienehre instandgesetzt werden?
Könnten die Mauern Lebensjahre zurückgeben, einen Schicksalsschlag ungeschehen machen?
Und in dem Haus befindet sich wohl auch das Pfauengemälde. Ana sagt: „Ich hatte die Geschichte des Hauses in die anderen Geschichten eingereiht, … die ich als Kind geglaubt und dann vergessen hatte“. Es sind aber nicht ihre Geschichten, sondern die ihres Vaters, von ihm oder seinen Schwestern wiedererzählt, etwa über Folter der Geheimpolizei Securitate, über Gemeinheiten des unterdrückerischen Regimes, über Unbesiegbarkeit. Geschichten aus zweiter und dritter Hand in einem Graubereich zwischen Idylle und Trauma. Ana fragt sich, wann eine Geschichte wahr ist und was wir brauchen, um unsere Liebe festzuhalten.
Wir erleben sie beim Vorlesen eines Märchens: „Einmal, wie es keinmal war, wäre es nicht gewesen, würde es nicht erzählt“. Ja – und das Märchen, so sagt man ihr in Rumänien auch das– geht Hand in Hand mit der Wahrheit, weil die allein unzumutbar ist. Es wird wie ein Schleier über die Wahrheit gelegt. Ana zeigt uns Rumänien als ein Land in Umbruch und Veränderung, in dem die Gesellschaft versucht, sich im Verständnis eigener Vergangenheit neu zu orientieren. Wie Ana fragen sich die Menschen, inwieweit erzählte und erinnerte Vergangenheit das Leben ausmachen. Wer sind wir ohne Geschichten?
„Das Pfauengemälde“ ist ein Familienroman und gleichzeitig eine politische Geschichte. Das Figureninventar schillert in Farben, die unnatürlich scheinen und doch wieder vertraut anmuten. Und es ist ein Entwicklungsroman: Am Schluss gibt es den Punkt des Erwachsen-geworden-Seins, in dem der Schleier des Märchens jäh zerrissen wird:
Lassen Sie sich überraschen vom Wendepunkt!
Die Autorin Maria Bidian http://mariabidian.com/ wurde 1988 in Mainz geboren und wuchs in Wiesbaden auf. Nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Literarisches Schreiben, absolvierte sie eine Weiterbildung im Schauspiel und eine Ausbildung zur Journalistin. Die Video-Produzentin und Autorin lebt und arbeitet in Berlin und Sibiu/Rumänien.
Maria Bidian: „Das Pfauengemälde“, Zsolnay, 2024, ISBN 978-3-552-07384-5
320 Seiten, 24 Euro
Vorschau auf den Dezember 2024:
Karl Valentin. Die Zukunft war früher auch besser. Gerade Gedanken eines Schrägdenkers. 352 Seiten. Marix-Verlag, 2019. Hg.: Josef K. Pöllath