Ausgabe September 2024: Auslese. Marias Bücherblog

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Naturgewalt und Obsession im Sausal. „Die Unzertrennlichen“ von Lilian Faschinger

„Die Unzertrennlichen“ ist Lilian Faschingers bisher letzter Roman; er wurde 2012 veröffentlicht. Mit dem Titel tritt sie metaphorisch in die ganz große Krimiliteratur ein: Mit dem Kauf der Unzertrennlichen, einer Vogelart, die man auch die Agaporniden (zu Deutsch „Liebesvögel“) nennt, beginnt Hitchcocks Horrorfilm „Die Vögel“.

Wird, was als Dorfgeschichte beginnt, auch so groß? Die Raffung und Dehnung beim Erzählen gehören zum Handwerkszeug von Autoren. Lilian Faschingers Roman plätschert stellenweise unterhaltsam dahin und nimmt uns anderen Stellen wie ein reißender Fluss mit. Die Autorin bietet immer wieder Naturgewalten auf: Da fährt ein Blitz in die Trauergemeinde, sodass es manchen (nicht nur im übertragenen Sinn) die Sprache verschlägt und nichts mehr ist, wie vorher.

Und wieder ist es die kleine Welt, das südsteirische Dorf im Hügelland zwischen den südsteirischen Flüssen Sulm und Laßnitz, in der die große ihre Probe hält. Eine Vielfalt an Typen tritt auf, etwa der „ewige Hippie“, deutlich abgesetzt davon die „vernünftigere“ und weltläufigere Nachfolgegeneration. Oma und Opa lernen wir kennen, wie sie einem – hier gestalterisch grobgeschnitzt – überall begegnen. Es gibt das familiäre Narrativ, warum die Protagonistin geworden ist, was sie ist: cherchez la mère – na klar, bei der Mutter! Aber auch bei dem Vater. Man sieht sie an seinem Sarg stehen, nicht bewegt, sondern versunken in empirische Erkundung und mit professioneller Distanz (sie ist Gerichtsmedizinerin): Wie sieht seine Haut aus, wo finden sich Blutgerinnsel? Immer wieder werden wir sie als kühle Beobachterin erleben.

Und es wird nach Italien gereist. Dass jede Ortsveränderung auch den Menschen verändert, zeigt sich in diesem Roman: Es ist nichts mehr, wie es war, bevor jemand aus dem Dorf weg nach Wien gegangen ist. Die Partnerin, mit der sie in Wien zusammenlebt, konstatiert bereits Entfremdung, nachdem Sissi in die Landschaft ihrer Kindheit gereist ist (vorerst ja nur zum Begräbnis des eigenen Vaters). Und es ist nichts mehr wie vorher nach der Rückkehr aus Italien. Sissi kehrt von einer Fact Finding Mission verändert zurück.

Wollte man die Geschichte ein Genre-System pressen und wäre dies der „Krimi“, dann ein detailreich erzählter Regionalkrimi, der auf ein Verbrechen zurückschaut, das bereits geschehen ist. Eigentlich schauen nicht alle, manche blicken sogar absichtlich vorbei, drängen nicht auf Aufklärung. Die Protagonistin aber spürt dem Verschwinden ihrer Jugendfreundin, über das es so viele Annahmen und keine sicheren Antworten gibt, spürt sie nach.  Zuerst zögerlich, dann systematisch. Schließlich nimmt das Geschehen immer deutlicher Fahrt auf. Irgendwann finden wir uns mitten in einem Psychothriller, irren mitunter falschen Fährten nach und erleben, wie sich ein einzelnes Staubkörnchen allmählich zu einer Lawine verdichtet und alles überrollt. Von der idyllischen steirischen Landschaft ins nicht minder pittoreske Städtchen auf der Insel Procida vor Neapel reisen wir mit Sissi. Nach ihrer Rückkehr gerät sie, die Jugendfreundin Stefans (des Partner der Verschwundenen), in süßliche Nostalgie. Dem folgt triebgesteuertes Über-einander-Herfallen. Jäh blitzt Erkenntnis auf, was der andere wirklich für einer ist, kommt es zu Ränkespiel, Verstecken und Aufspüren… Worauf läuft es hinaus? Werden die Unzertrennlichen ineinander verschmelzen, wie hier Satire und Unterhaltung? werden sie miteinander untergehen oder vermag es ein Ereignis, sie zu trennen? Erfolgt eine Entlarvung und ist diese eine Entlastung? „Whudonit“, also: „Wer war´s?“, die namensgebende Frage des Genres, tönt unüberhörbar. Lesen Sie selbst!

Lilian Faschinger, eine Kärntnerin, ist Jahrgang 1950. Viel von „ihrer“ Zeit findet sich hier wieder. Da wären die höchst unterschiedlichen Lebenspläne im dörflichen Umfeld und in der Großstadt, die Phasen der Binnenmigration vom Dorf in die große Welt und schließlich die durch Systematik veränderte Weltbetrachtung, die die Wissenschaft lehrt. Weil es kommt, wie es kommen muss, folgt die Entfremdung von der Stammfamilie und die Abkehr von Normvorstellungen über Familien und Lebenspläne. Und vor allem wird die beidseitige Irritation der „Abweichung“ (sowohl aus Sicht des Abweichenden als auch derer, die das konstatieren) Thema.

1983 begann Faschinger in Graz, Lyrik und Kurzprosa zu veröffentlichen. Im Laufe der Jahrzehnte entstanden Romane, Kurzgeschichten, „Episoden“ und Gedichte. Einer ihrer Romane („Magdalena Sünderin“, übersetzt in 17 Sprachen) fand internationale Beachtung. Ihre Übersetzungen aus dem Englischen und vorwiegend Amerikanischen (u.a. Gertrud Stein) weisen sie als Koryphäe der Anglistik aus. Unter allen Auszeichnungen sind v.a. der Österreichische Staatspreis für literarische Übersetzer (1990) sowie der Literaturpreis des Landes Steiermark (1997) und der Große Literaturpreis des Landes Kärnten (2010) zu nennen.

 

Lilian Faschinger: Die Unzertrennlichen. Roman Zsolnay, Wien 2012

Taschenbuchausgabe: dtv, München 2014. 319 Seiten. ISBN 978-3-423-14369-1 (€ 10,90)

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